Christin Müller
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„Charakterköpfe“ – Frauen und Fotografie

Die Fotografinnen der Avantgarde gehören zu den Protagonistinnen unter den „Neuen Frauen“, die mit der traditionellen Rolle als Ehefrau und Mutter brachen. Stattdessen wählten die Frauen Ausbildung und Beruf, trugen androgyne Kleidung sowie Haarschnitte und etablierten neue Arbeits- und Lebensweisen. In der Weimarer Republik bot sich mit der Fotografie ein neues Berufsfeld, das noch nicht vollständig von Männern besetzt war. Verschiedene Ausbildungsformen wie Volontariate bei Fotografen, in den Fachklassen der staatlichen Kunstgewerbeschulen oder an den Photographischen Lehranstalten ermöglichten wirtschaftliche Unabhängigkeit und gesellschaftliche Teilhabe.2 Florence Henri kam über ein künstlerisches Studium in Berlin und Paris und schließlich am Bauhaus in Dessau zur Fotografie. Im Anschluss an ihre Ausbildung gründeten zahlreiche Fotografinnen eigene Ateliers, um sowohl Aufträge als auch freie Arbeiten zu realisieren. Lotte Jacobi, die das Atelier ihres Vaters übernommen hatte, suchte die von ihr Porträtierten in deren Umgebung auf. Andere Frauen, wie Lotte Errell und Germaine Krull nutzten das Medium, um ihrer Abenteuerlust mit Reisen auf verschiedene Kontinente zu folgen und sich politisch zu engagieren. Für die Autodidaktin Aenne Biermann gab ihre Mutterrolle Anlass, sich vorerst mit Fotografie als Erinnerungsmedium zu beschäftigen und sich später auch Porträt- und Objektstudien zuzuwenden.

Mit dem selbstbewussteren Auftreten der jungen Frauen veränderte sich deren öffentliche Wahrnehmung in den Medien und umgekehrt gestalteten diese das Bild der neuen Weiblichkeit: illustrierte Zeitschriften oder die Modezeitschrift die neue linie, die erst 1929 gegründet worden war, erlebten einen Aufschwung und damit auch auf Werbe- und Modefotografie spezialisierte Fotografinnen wie Yva und Madame d’Ora. Artikel wie „Das Antlitz der Frau. Arbeit und Beruf formen die Gesichter“3 oder das häufig verwendete Motiv der Autofahrerin – u. a. publizierte Die Dame das erste Novemberheft von 1930 als „Autoheft“ – bezeugen das Eintreten in Männerdomänen. 

Als Ende der 1920er Jahre das Ausstellen von Fotografie an Bedeutung gewann, zeigten die Fotografinnen auf Ausstellungen wie Fotografie der GegenwartFilm und Foto (beide 1929) und Das Lichtbild (1930) ihre Bilder. Einzelpräsentationen gelangen Aenne Biermann (1928 im Kunstkabinett, München und 1930 im Kunstverein Gera), Yva (1929 in der Galerie Neumann-Nierendorf, Berlin) und Florence Henri, für die Kurt Wilhelm-Kästner noch 1933 im Museum Folkwang eine Ausstellung ausrichtete. Einige von ihnen konnten darüber hinaus monografische Bücher publizieren: Franz Roh widmete Aenne Biermanns Arbeiten eine Ausgabe in seiner Reihe 60 Fotos(Fototek 2, 1930), von Lotte Errell erschien Kleine Reise zu schwarzen Menschen (1931) und Germaine Krull veröffentlichte unter anderem die MappeMétal(1928) sowie die Bücher 100 x Paris (1929) und La Route Paris-Biarritz (1930). 

Nach dem zweiten Weltkrieg war die Mehrheit der Fotografinnen in Vergessenheit geraten und wurde größtenteils erst in den 1970er Jahren im Zuge der Frauenforschung wiederentdeckt. Zu dieser Zeit bemühte sich auch Otto Steinert im Museum Folkwang mit der Ausstellung Fotografinnenum eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem weiblichen Blick ab 1925. Es folgten Einzelausstellungen und Publikationen, unter anderem von Lotte Jacobi, Annelise Kretschmer, Aenne Biermann, Germaine Krull sowie ringl+pit (Ellen Auerbach und Grete Stern). 1994 wurde dann mit der Ausstellung Fotografieren hieß teilnehmeneine umfangreiche Recherche zu den Fotografinnen der Weimarer Republik vorgestellt. Gegenwärtig wird Germaine Krulls außereuropäisches Werk aufgearbeitet, deren Nachlass sich in der Fotografischen Sammlung befindet. 

1   Die Dame, Jg. 54, H. 16, 1926, S. 4.

2   Weitere Berufsfelder waren: Medizin, Sozialfürsorge, Journalismus und Architektur, Vgl. Anita Grossmann:Berufswahl – ein Privileg der bürgerlichen Frau, in: Fotografieren hieß teilnehmen. Fotografinnen der Weimarer Republik, Hrsg. Ute Eskildsen, Essen, 1994, S. 11.

3   Wochenschau, 3. Januar 1931, S. 20-23.

 

 

Publikationsort
Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl. Fotografie der zwanziger Jahre, hrsg. v. Museum Folkwang Essen, Ausst.-Kat., Göttingen 2012, S. 39