Einleitung
Wissenschaftliche Bilder faszinieren, weil sie Dinge und Vorgänge zeigen, die dem Auge verborgen bleiben: Immer tiefer kann man in den Mikro- und Makrokosmos eintauchen und diese in Bildern fixieren. Die Fotografie jedoch nur als Sehhilfe der Forscher zu bezeichnen, wäre zu kurz gegriffen. Ihre Rolle ist ebenso vielgestaltig wie der Einfluss, den die Wissenschaft ihrerseits auf die Fotografie ausübt. Seit der Erfindung der Fotografie in den 1830er Jahren resultieren aus einer sich weiterentwickelnden wissenschaftlichen Praxis neue Ansprüche an die fotografischen Fähigkeiten und damit auch ein unablässiges Herumschrauben an den Möglichkeiten des Mediums. Auf diese Weise entstehen Bilder mit völlig anderen Prämissen als in der Dokumentar-, Werbe- oder Kunstfotografie. Was dieses delikate Verhältnis von Wissenschaft und Fotografie ausmacht, welche Formen der Sichtbarmachung sich etabliert haben, und wie die Fotografie die Forschung vorangebracht hat, ist Thema von Cross Over – Fotografie der Wissenschaft +Wissenschaft der Fotografie.
Die Ausstellung und der begleitende Katalog gehen dem in einem fünffach gerichteten Blick nach, der die Rolle der Fotografie als visuelle Forscherin der Wissenschaften erkundet. Während historische Bilddokumente die Fotografie in der Wissenschaft verorten, halten zeitgenössische fotografische Positionen Materialien und Methoden einen Spiegel vor und spielen mit den Grenzen der wissenschaftlichen Fotografie.
Das Kapitel Einblick schaut in den Mikrokosmos. Unzählige mit Hilfe von Mikroskopen hergestellte Bilder von Pflanzenteilen, Flüssigkeiten, Zellen oder Insekten bezeugen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die enge Zusammenarbeit von Forschern und Fotografen. Ebenso sind sie Zeichen einer Faszination, die das künstlerisch Dekorative streift. Von aufwendigen experimentellen Anordnungen berichten Aufnahmen zur Untersuchung von Materialeigenschaften und kleinsten Teilchenbewegungen, die in den Laboren der Physiker mit dem Ziel entstehen, Thesen zu überprüfen oder neue aufzustellen. Einen sehr konkreten Einblick ermöglicht die Strahlenfotografie ab Ende des 19. Jahrhunderts: Mittels der Röntgenfotografie kann man durch Körper und Dinge hindurchsehen. Gleichzeitig bewegt sich die Wissenschaft mit der Fluidal- und Geisterfotografie in Richtung des Metaphysisch-Spekulativen.
In Ausblick kehrt sich die Blickrichtung: Thematisiert wird die Erforschung und das Vermessen des Makrokosmos, des Fernen und Fremden. In der Astronomie wird die Fotografie seit ihrer Erfindung genutzt. Mit riesigen Teleskopen blickt man gen Himmel, um Planeten und Sterne zu studieren, aus den eigenen Observatorien ebenso wie auf zahlreichen Sonnenfinsternis-Expeditionen. Die Geschichte der Astrofotografie ist aber auch eine des Scheiterns und der Fehlversuche. Anders als bei mikroskopischen Aufnahmen sind die weit entfernten Himmelskörper sehr dunkel, und die ersten Daguerreotypien des Mondes waren wegen dessen Eigenbewegung unscharf. Die Weiterentwicklung der Kameras und deren Mechanismen tendierten früh zur vollständigen Automatisierung – bis hin zur Übernahme der Rolle des Fotografen durch Roboter, wie etwa 1978 auf dem Mars geschehen. Auch in der ethnologischen Forschung fand die Fotografie schnell Anwendung, auf Expeditionen in die ganze Welt wurden fremde Völker, ihr Handwerk und ihre Rituale sowie die sie umgebende Landschaft fotografisch „vermessen“.
Den Versuch der Ordnungsbildung, Analyse und Klassifikation erforscht Durchblick. Hier treten die taxonomischen Fähigkeiten des Mediums hervor. In der Medizin erlaubt die Fotografie den Vergleich verschiedener Krankheiten und ihrer Symptome, in der Forensik werden der Tatvorgang und dessen Spuren aus verschiedenen Perspektiven hergeleitet. Aufnahmen von schnellen Bewegungsabläufen oder auch langsam voranschreitenden Prozessen erlauben das Nachvollziehen von Vorgängen, die aufgrund ihrer Zeitlichkeit mit blossem Auge nicht wahrnehmbar sind. Anwendung finden solche Bildreihen in der Umweltforschung, um äussere Einflüsse auf die Veränderung von Landschaft zu beobachten oder aber in chronofotografischen Studien schneller Abläufe, die diese in Einzelbilder zerlegen.
Selbstblick geht der Selbstinszenierung der Wissenschaften nach. Bereits dem Handwerkszeug der Forscher, der Charakteristik der Labore und den dort stattfindenden Handlungen wohnt eine theatralische Qualität inne, die der Öffentlichkeit zumeist verschlossen bleibt. Nach aussen dringen hingegen Bilder von Forschungsergebnissen sowie repräsentative Porträts der forschenden Protagonisten und von Instrumentarien, die ihren Wissenschaftszweig definieren.
Im letzten Kapitel der Ausstellung orientiert sich der Blick noch einmal um. Mit einem Reflektierenden Blick stehen die Funktionsweisen und die Lesbarkeit von Fotografie im Zentrum. Thematisiert werden die Parameter der Fotografie sowie deren experimentelle Verschiebung. Die Untersuchung der Funktionsweise des fotografischen Sehens findet exemplarisch Ausdruck in der Erforschung des Lichts, der Abbildungen und Abbildungsfehler oder aber des fotografischen Materials sowie im Abschreiten der Grenzen des Mediums: etwa wenn das Silber im Fotopapier durch Echtfarbe ersetzt wird oder kleine schwarze Quadrate den Chip einer Digitalkamera überfordern und poetische Farbschlieren bilden. Die hier gezeigten historischen Fotografien bilden nur eine Spitze des Eisbergs. Es sind Bilder, die in Museen und Archiven aufbewahrt, von Privatsammlern zusammen getragen wurden oder mehrere Aussortierungsprozesse in Forschungsinstitutionen überstanden haben. Sie sind alte Zeugen von abgeschlossenen Untersuchungen, die von Neuen abgelöst wurden oder von fotografischen Innovationen. Wie lassen sich solche Aufnahmen lesen? Was macht die Spezifik und Materialität dieser Bilder aus? Eine rein ästhetisch bildwissenschaftliche Betrachtungsweise wäre ebenso ungenügend wie eine technikanalytische. Vielmehr soll hier nach dem Wechselspiel – dem Cross Over – zwischen Fotografie und Wissenschaft gefragt werden, das von den zeitgenössischen Positionen zusätzlich befeuert wird.