Christin Müller
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Ein Blick zurück nach vorn

– auf das fotografische Geschehen in Sachsen und der Lausitz

Die fotografischen Handschriften und Haltungen in Sachsen und der Lausitz lassen sich weder auf eine bestimme Arbeitsweise noch auf ein Thema eingrenzen – zu verzweigt sind die Wurzeln der fotografischen Produktionsstätten und zu vielgestaltig die künstlerischen Interessenfelder. Als Einführung wird deshalb das gegenwärtige fotografische Geschehen als erweiterter Kontext für die folgenden vertiefenden Aufsätze aus verschiedenen Perspektiven umrissen.

Beobachtungen lokaler und regionaler Eigenheiten
Die Charakteristik einer Region ist eine Art Hintergrundrauschen für das künstlerische Schaffen oder aber Basis von Werken, die auf strukturelle, politische oder kulturelle Eigenheiten reagieren. Im Gebiet der ehemaligen DDR fand durch die Wiedervereinigung eine rasante Veränderung des Lebensraums statt, die das Gesellschaftssystem ebenso wie die Infrastruktur betraf und bis heute eine starke Reibungsfläche für die künstlerische Auseinandersetzung bietet. 15 Jahre nach dem Mauerfall begab sich Falk Haberkorn (*1974 in Berlin) mit Sven Johne (*1976 in Bergen/Rügen) auf die Suche nach den Spuren dieses Strukturwandels in Landschaft und Gesellschaft. Innerhalb von vier Wochen legten die beiden Künstler 8 000 Kilometer Strecke durch die neuen Bundesländer zurück. Als Zeitrahmen wählten sie zwei historische Ereignisse des Herbstes 1989: den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober und den Mauerfall am 9. November. Ergebnis dieser Reise ist ein „fotografischer Roadmovie"1 in Schwarz-Weiß mit dem Titel Ostdeutschlandfahrt (After the Goldrush). Die Aufnahmen entstanden direkt aus dem Auto heraus. Die schwarzen Ränder des Autofensters und ein Rückspiegel rahmen die vorgefundenen Szenerien: kahl geschlagene, entleerte Landschaften, gigantische Verkehrswege und Fertighäuser, ein Überangebot an Autohäusern und Kaufparks, neue und verlassene Industrieanlagen und Wohneinheiten. Neu gestaltete und gebliebene Strukturen stehen einander gegenüber wie neue und alte Ideologien. Ähnliche fotografische Forschungsreisen haben Pieter Hugo für das ZEITmagazin und Thomas Victor für das Magazin SPIEGEL und ein Buchprojekt unternommen.2 Während Letztere in direkte Kommunikation mit den Anwohnern traten, verfolgte Haberkorn einen konzeptuellen Ansatz. Mit dem Blick eines distanzierten Beobachters hielt er den vorgefundenen Zustand des Landes querschnittartig und nüchtern fest und machte über die Rahmung des Autofensters seine Perspektive sichtbar.

Dieser großräumigen Betrachtung der neuen Bundesländer steht die Auseinandersetzung mit dem Mikrokosmos der kleinen Eckkneipe Blaue Perle im Leipziger Westen gegenüber. Jana Schulz (*1984 in Berlin) interessierte sich in ihrer gleichnamigen Videoarbeit für die Besucherinnen und Besucher der Kneipe, für das Pingpong ihrer Blickwechsel, die illusionsaufgeladene Atmosphäre und Realitätsflucht. Die Videoarbeit trotzt der Geschwindigkeit des Alltags. Sie besteht aus ruhigen fotografischen Aufnahmen der Barbesucher und des Raums, eingetaucht in das schillernde bunte Discolicht. Eine Neukomposition von Spielautomatentönen rhythmisiert das Geschehen. Es ist eine exemplarische Milieustudie, die präzise Einsamkeit, Illusion und die Schwierigkeit der Kommunikation als Themen unserer Zeit verhandelt.

Ausgangspunkt für die künstlerische Recherche zu Sven Johnes Wanderung durch die Lausitz war ein konkretes Ereignis: In einem Artikel derSächsischen Zeitung von 2005 wurde von knapp 20 Schafen berichtet, die in der Nähe einer ehemaligen Kohlebahn in der Lausitz von Wölfen gerissen worden waren. Über Nachforschungen fand Johne heraus, dass sich in der Region zwar nach 150 Jahren wieder Wolfsrudel angesiedelt hatten, es jedoch noch keine Bilder der nachtaktiven Tiere gab. Er besorgte sich eine Infrarotkamera, las Fachliteratur, lernte Fährtenlesen und begab sich nachts auf die Suche nach den Wölfen. Seine Wanderung startete Mitte 2006 in dem Ort Podrosche und endete nach fünf Nächten im 80 Kilometer entfernten Zosel. Von den Wölfen fand Johne nur Spuren, stattdessen hielt er Kurioses fest, das ihm auf seinem Weg begegnete. Ein Walddorf hatte etwa auf gemeinsamen Beschluss seiner 34 stimmberechtigten Bewohner den Namen Forrest Village erhalten. Die Siedlung war zu einer Westernstadt umgestaltet und eine Bisonherde angesiedelt worden. Die Bewohner organisierten nun Veranstaltungen wie Goldschürfen im Dorfteich. Johnes scheinbar sachliche Berichte über die sächsische Provinz enthalten – wie die Unschärfe der Infrarotaufnahmen – Raum für Fiktion, die der Künstler auszugestalten weiß.

Während Sven Johne nach Erzählungen in Orten sucht, beschäftigt sich Sebastian Stumpf (*1980 in Würzburg) mit Ideologien, die sich auf der Oberfläche von Stadt- und Landschaftsgestaltung abzeichnen. In seinen Performances für die Kamera verlässt Stumpf gängige Bewegungs- bzw. Handlungsmuster von Orten, um kleine beiläufige Irritationen zu erzeugen. Das Setting für seine Videoarbeiten Inseln, Zuflüsse und die fotografische Serie Abraum (alle 2014) bildet die ehemalige Tagebaulandschaft südlich von Leipzig, die seit Anfang der 1990er Jahre renaturiert wird. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen befand sich die Landschaft noch in einem Prozess der Transformation. Die Restlöcher des Braunkohleabbaus wurden geflutet und die Bepflanzung war noch spärlich. Mit artistischen Sprüngen in den Fotografien und klaren Bewegungslinien bzw. Positionierungen in den Videoarbeiten unterstreicht Stumpf die Künstlichkeit der neuen Landschaft, in der ein Mensch wie ein Fremdkörper wirkt. Zugleich ermöglicht seine Präsenz eine Vorstellung von deren Größenverhältnissen der abstrakt gewordenen Natur.

Die Künstlerin Luise Schröder (*1982 in Potsdam) arbeitete in ihrer Auseinandersetzung mit der visuellen Geschichtsschreibung der Stadt Dresden auf andere Weise performativ. Ihre Werkgruppe Mythos Dresden rahmt zwei historisch bedeutende Ereignisse: die Kriegszerstörung 1945 und die Jahrhundertflut von 2002. Über die Auseinandersetzung mit Bildbänden, Postkarten und Zeitungen, die vor und nach 1990 veröffentlicht wurden, untersuchte Schröder, wie Dresden als Projektionsfläche für Ideen und Ideologien diente und dient. In einem Video können wir die Künstlerin dabei beobachten, wie sie das gefundene Bildmaterial übereinanderschichtet und es Feuer, Sand und Wasser aussetzt. Ergebnis sind eine Videoarbeit und sieben Fotografien, in denen sich Schwelbrand und Wasser durch die Bilder fressen, sich Häuser, Fassaden, Straßen, Menschen und Landschaften ebenso wie Zeit und Raum durchdringen – und sich somit die historischen Ereignisse mit dem Bildmaterial wiederholen.

Ausbildungsstätten als Spurenleger
Die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig ist die einzige Ausbildungsstätte in Sachsen, an der es den Studiengang künstlerische Fotografie gibt. Alle bisher und einige der im Folgenden genannten Künstlerinnen und Künstler haben in einer der Klassen studiert. Die Auseinandersetzung mit Fotografie hat an der Hochschule eine lange Tradition. Ab 1893 wurde Reprofotografie unterrichtet. Eine Klasse für künstlerische Fotografie existiert seit 1905. Derzeit ist das Studienfach in ein Grund- und Hauptstudium gegliedert. Die Regelstudienzeit beträgt zehn Semester, abgeschlossen wird mit einem Diplom oder nach weiteren vier Semestern mit einem Meisterschülerabschluss. Der Fachbereich präsentiert sich auf der hochschuleigenen Homepage mit einem weiten Medienverständnis:„Die Lehre der künstlerischen Fotografie an der HGB [ist] heute durch eine Offenheit gekennzeichnet, die den Prozess der Bilderzeugung in analoger wie digitaler Form vermittelt und ein Spektrum künstlerischen Ausdrucks thematisiert, das über die ursprünglichen Grenzen des Mediums hinausreicht: Fotografie als bildgebendes Medium, auch in Verbindung zu Text und Buch, zum Bewegtbild in Film und Video, als raumbezogene Installation.“ Als wesentliches Ziel wird die Herausbildung einer „künstlerischen Haltung und Bildsprache"3 benannt. Seit der Umstrukturierung des Studiengangs 1993 wird im Hauptstudium in vier Fachklassen gelehrt: Die Klasse für Fotografie und Bewegtbildwird seit 2003 von Tina Bara (*1962 in Kleinmachnow) geleitet. Seit 1993 unterrichtet Joachim Brohm (*1955 in Dülken) die Klasse für Fotografie und Medien. Heidi Specker (*1962 in Damme) lehrt seit 2011 in der Klasse für Fotografie und die Klasse für Fotografie im Feld der zeitgenössischen Kunstunterstand von 2011 bis zum Sommersemester 2018 der Leitung von Peter Piller (*1968 in Fritzlar).

Verankerungen der Region in Ausstellungsprojekten
Der Bezug zu lokalen Entwicklungen und die Vielgestaltigkeit der fotografischen Tendenzen in Sachsen waren bereits Thema in diversen Ausstellungen, Veranstaltungen und Symposien. Exemplarisch werden hier drei Projekte vorgestellt, die jeweils einen anderen Zugriff auf das Lokale verfolgen. Eine umfassende Präsentation der fotografischen Tradition und gegenwärtigen Arbeitsweisen zeigte Leipzig. Fotografie seit 1839. Das Kuratorenteam um Christoph Tannert berief sich auf die Vorreiterrolle des fotografischen Gewerbes in der Stadt. Beispielsweise lassen sich einen Monat nach der Erstpräsentation des Mediums 1839 in Paris Anzeigen von Wanderdaguerreotypisten in Leipzig nachweisen, eröffnete Berta Wehnert-Beckmann 1843 als erste Frau ein Fotografieatelier, veröffentlichte die Leipziger Illustrirte Zeitung 1883 das erste gerasterte Foto in einer Zeitung und erhielt Frank Eugene Smith 1913 die weltweit erste Professur für Fotografie. Vorgestellt wurden sich verändernde Bildauffassungen und Motivwelten von rund 190 Fotografinnen und Fotografen. Die Schau begann in der Frühphase der Fotografie und gliederte sich anschließend entlang von historisch wichtigen Ereignissen – von den Weltkriegen und der Nachkriegszeit über den Mauerbau und die Wiedervereinigung bis hin zur Gegenwart. Das Spektrum der Exponate und Leihgeber war weit, sodass sich an den drei Ausstellungsorten, GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Stadtgeschichtliches Museum und Museum der bildenden Künste Leipzig, ein Kaleidoskop des Umgangs mit dem Medium Fotografie in Leipzig von der Frühzeit bis in die Gegenwart eröffnete.

Für einen thematischen Zugriff entschieden sich die Kuratoren Wolfgang Hesse, Andreas Krase und Katja Schumann mit der Ausstellung Mensch! Photographien aus Dresdner Sammlungen, die 2006 im Dresdner Kupferstich-Kabinett stattfand. Mit der Wahl der Porträtfotografie als Thema konzentrierten sie sich auf eines der wichtigsten Genres der Fotografie und präsentierten unterschiedliche Porträtansätze sowie eine Genealogie des Mediums. Zugleich wurde über einen breiten Zugriff auf die Einsatzfelder der Porträtfotografie Dresden als Ort fotografischer Forschung, Wissenschaft, Lehre, technischer Entdeckungen, der Herstellung von Kameras, Kinoapparaten und Fotopapieren vorgestellt. Gezeigt wurden knapp 400 Fotografien aus etwa 80 Bildserien aus dem Kupferstich-Kabinett und der Deutschen Fotothek der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden sowie weiteren regionalen Sammlungen. Neben künstlerischen waren auch angewandte Fotografien unter anderem aus Medizin und Wissenschaft sowie Apparate zu sehen. Drei thematische Stränge –Körper, Zeiten und Identitäten – veranschaulichten fotografische Sichtweisen auf den Menschen aus verschiedenen Perspektiven. Das Kapitel Körper legte den Schwerpunkt auf die Betrachtung von Körperlichkeit im klassischen Porträt, auf Freikörperkultur Ende des 19. Jahrhunderts, Körper als Urformen der Kunst, auf die Vermessung von Körpern in der Polizeifotografie und die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Körper. Zentral bei Zeiten waren Menschendarstellungen in verschiedenen Zeiten und geografischen Räumen und Identitäten thematisierte die Auseinandersetzung mit der Polarität von Individuum und Stereotyp in der Kabinettbild-Industrie, Kompositfotografie, bei inszenierten Dokumentationen von militärischen Gruppen, bei polizeilicher Erkennungsmethodik und in künstlerischen Ansätzen.

Das Leipziger Festival für Fotografie f/stop fragte 2018 in seiner achten Ausgabe mit dem Titel Zerrissene Gesellschaft nach der fotografischen Begleitung von Aushandlungs- und Kommunikationsprozessen und den Möglichkeiten von Fotografie, Medium demokratischer Vermittlung zu sein. In der Ausstellung verbanden die Kuratoren Anne König und Jan Wenzel diese Fragestellung mit den gesellschaftspolitischen Veränderungen in Ostdeutschland im Zuge der Wiedervereinigung. Das In-situ-Projekt Das Jahr 1990 freilegen auf dem Wilhelm-Leuschner-Platzim Leipziger Stadtzentrum platzierte über Fotografien von Andreas Rost, Tagebucheinträgen von Christian Borchert, Textcollagen von Elske Rosenfeld und Texten von Jan Wenzel soziale und wirtschaftliche Entwicklungen und individuelle Beobachtungen zum Wendejahr mitten in den heutigen Stadtalltag. In der Hauptausstellung auf der Leipziger Baumwollspinnerei konfrontierte das Kuratorenteam über fotografische Arbeiten Prozesse des Verschwindens, der Veränderung und des Nachlebens aus den 1990er Jahren mit ähnlichen Entwicklungen etwa in Frankreich und Ereignissen der Gegenwart wie dem NSU-Prozess. In der Ausstellung fungierte Fotografie als „ein Mittel der Vergegenwärtigung und Erinnerung"4 und durch das produktive Gegeneinanderschneiden von verschiedenen fotografischen und textlichen Beobachtungen wurde eine diskursive Betrachtung der Ereignisse initiiert.

Bedeutende Vor- und Nachlässe in Sachsen
In den Sammlungen der sächsischen Museen befinden sich in Vor- und Nachlässen größere Konvolute von Fotografinnen und Fotografen, die aus der Region stammen oder das fotografische Geschehen nachhaltig beeinflusst haben. Beispielhaft sollen das Archiv von Evelyn Richter (*1930 in Bautzen) im Museum der bildenden Künste Leipzig, der Teilnachlass von Christian Borchert (1942 in Dresden –2000 in Berlin) im Kupferstich-Kabinett und der Deutschen Fotothek in Dresden, der fotografische Nachlass Wols’ (1913 in Berlin –1951 in Paris) sowie der Teilvorlass Timm Rauterts (*1941 in Tuchel) im Kupferstich-Kabinett in Dresden genannt werden. Auf die zwei wichtigen Vertreter der sozialdokumentarischen Fotografie der DDR, Evelyn Richter und Christian Borchert, gehen Agnes Matthias bzw. Robert Lorenz und Bertram Kascheck in ihren Beiträgen in diesem Sammelband ein. Das künstlerische Schaffen von Wols und Timm Rautert wird an dieser Stelle vorgestellt. Beide Positionen stehen auf unterschiedliche Weise für ein Nachdenken über die Möglichkeiten der fotografischen Bildsprache.

Der Künstler Wols, geboren als Alfred Otto Wolfgang Schulze in Berlin und aufgewachsen in Dresden, ist vor allem über sein malerisches und grafisches Werk bekannt, das mit der Präsentation auf der ersten und zweiten documenta (1955 und 1959) und Biennale in Venedig (1958) früh große Aufmerksamkeit erregte. Seine künstlerische Ausbildung begann 1931 mit einer Assistenz im Atelier der Dresdner Fotografin Genja Jonas. 1932 ging er nach Paris und zog damit in eines der wichtigsten Zentren der künstlerischen Fotografie. Bis 1939 entwickelte er dort ein singuläres fotografisches Werk, das er nur bruchstückhaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs fortsetzte. Wols experimentierte umfassend mit dem Porträt, fotografierte in den Straßen von Paris, war Auftragsfotograf im Pavillon de l'Élégance auf der Weltausstellung 1937 und wandte sich schließlich dem Stillleben zu. Es existieren nur wenige Vintage Prints, jedoch zahlreiche Neuabzüge, die im Rahmen der ersten umfangreichen postumen Ausstellungen der Fotografien von Wols in den 1960er und 1970er Jahren angefertigt wurden. In der Sammlung des Dresdner Kupferstich-Kabinetts befinden sich rund 1 000 dieser Neuabzüge, der schriftliche Nachlass aus dem Archiv von Wols’ Schwester Elfriede Schulze-Battmann sowie einige wenige Vintage Prints.Eine umfangreiche Aufarbeitung fand 2013 in der Ausstellung und Publikation Wols Photograph. Der gerettete Blick statt.

Das Werk von Timm Rautert zeichnet eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie aus. Er hat sowohl journalistische Projekte (frei und im Auftrag) als auch eine grundlegende Befragung des Mediums über seine Werkgruppen zur Bildanalytischen Fotografie verfolgt. Über seine Professur für künstlerische Fotografie von 1993 bis 2007 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst prägte er eine ganze Reihe junger Fotografinnen und Fotografen, die inzwischen selbst vielfach Aufmerksamkeit für ihre künstlerischen Werke erhalten haben.5 Rauterts Bildanalytische Fotografie kam 2014 mit 56 Einzelpositionen in die Sammlung des Kupferstich-Kabinetts in Dresden. In diesem Werkzyklus beschäftigte er sich vielperspektivisch mit den Bedingungen der Fotografie – von der Aufnahme bis zum fertigen Print. Es sind sorgsam und ernsthaft durchgeführte Versuchsanordnungen, häufig schwingt auch etwas leiser Humor mit, wenn Rautert akribisch Belichtungszeiten bei gleicher Blende und ohne Motiv durchfotografiert, auf eine Fotografie das Wort „Photographie“ schreibt oder den „Kontakt eines zur Hälfte belichteten Negativs, Kassette halb aufgezogen, nach 2 s (gezählt 21, 22) wieder geschlossen. 14.6.71, 14 Uhr, Tageslicht, bedeckt“ erstellt. Der Werkzyklus wurde 2016 in einer Ausstellung, einem Katalog und einem Symposium zunächst in einer ersten Sichtung im Kupferstich-Kabinett vorgestellt und wird aktuell kleinteiliger bearbeitet.

Erkundungen von Grenzgebieten der Fotografie
Das zeitgenössische Arbeiten mit Fotografie schließt derzeit ein Nachdenken über das Medium selbst ein. Mit dem Einzug des Digitalen erweitern sich nicht nur die Materialien und Aufzeichnungsmöglichkeiten, es verändert sich auch die Wahrnehmung des Analogen, ebenso wie sich in hybriden Bildformen der fotografische Aktionsraum vergrößert.

In das Grenzgebiet zwischen visueller und sprachlicher Fixierung begibt sich Anna Vovan (*1980 in Ettenheim) mit ihrer Werkgruppe Words (untitled). Sie sammelt Wörter, die ihr im Alltag begegnen. Die gefundenen Worte und Wortgruppen aus Nachrichten, Gesprächen und Texten transformiert und fixiert sie performativ in Fotogrammen. Im Zusammenspiel von Schärfe und Unschärfe verlieren die Begriffe ihre Festigkeit. Aus dem Text wird „wortwörtlich“ ein Schriftbild, das instabil und vieldeutig ist, ohne unbestimmt zu sein. Gezeigt wird kein konkreter Bildgegenstand, sondern vielmehr ein Umkreisen eines Gedankens oder einer Beobachtung, wobei Fotografie und Text produktiv verschwimmen.

Katarína Dubovská (*1989 inRužomberok/Slowakei) stellt mit Unknown Plant at the Edge of the Arctic ihr gewähltes Medium selbst infrage. Sie löst die Fotografie von ihrer engen referenziellen Bindung und lässt sie frei in Raum und Form flottieren. Die Basis der Installation ist die visuelle Erforschung einer unbekannten Pflanze. Ein Gitterraster verspricht Halt für die flüssig gewordenen Abbilder der Pflanze, die in der Verschränkung von digitalen Bildgebungsverfahren und neu erfundenen hybriden Aufzeichnungsformen entstehen. Durch das Experimentieren mit pflanzlichen und fotografischen Aggregatzuständen reflektiert Dubovská über die Materialität und Abbildfunktion des Mediums im postfotografischen Zeitalter.

Mit seinem Glossar befragt Adrian Sauer (*1976 in Berlin) den Status quo der Fotografie. In lexikalischen Artikeln, ohne visuelle Verweise, nimmt er die historischen Grundfesten des Mediums wie Licht, Autor oder Perspektive in den Blick. Er denkt über Nutzerphänomene wie Cloud, Meme oder Sharing und technikbedingte Erweiterungen wie Metadaten und Bot nach, benennt beständige Eigenschaften des Mediums in Fake und Tod und analysiert in Farewell (Photography) das, was in der fotografischen Gegenwart zu Ende geht. Die Werkform einer Plakatinstallation verweist auf Wesenszüge der zeitgenössischen Fotografie. Auf Plakate gesetzt, bewegen sich die Artikel des Glossars frei im Raum, lassen sich über Verweise netzartig lesen und bleiben so – wie die Entwicklung des Mediums Fotografie unvollendet.

1   http://spectorbooks.com/de/falk-haberkorn-after-the-gold-rush-journey-to-eastern-germany-fall-2004(letzter Zugriff 30.10.2018).

2   Pieter Hugo: „Land ohne Lächeln“ wurde im ZEITmagazin vom 21. September 2017 publiziert. Die Fotoreportage von Thomas Victor erschien 2018 in Auszügen aufSpiegel Online (http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/ostdeutschland-die-strasse-der-traeume-der-roadtrip-a-1200497.html, letzter Zugriff 30.10.2018) sowie als Buch (Raphael Thelen/Thomas Victor: Straße der Träume. Ein Roadtrip auf der B 96, Berlin 2018).

3   Selbstverständnis des Fachbereichs, in: http://www.hgb-leipzig.de/lehre/fotografie/ (letzter Zugriff 7.11.2018).

4   Anne König/Jan Wenzel: Zerrissene Gesellschaft, in: https://f-stop-leipzig.de/de/hauptausstellung/ (letzter Zugriff 8.11.2018).

5   u.a. Claudia Angelmaier, Viktoria Binschtok, Falk Haberkorn, Grit Hachmeister, Margret Hoppe, Sven Johne, Ricarda Roggan, Adrian Sauer, Oskar Schmidt, Sebastian Stumpf und Tobias Zielony.

Publikationsort
Im Moment. Neue Forschungen zur Fotografie aus Sachen und der Lausitz, Tagungsband 2018, hg. von Silke Wagler und Kai Wenzel, Kulturhistorisches Museum Görlitz und Kunstfonds, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Sandstein Verlag, Dresden 2020, S. 8-19