Christin Müller
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"Ein Vexierspiel zwischen Realraum und Bildraum"

Katharina Gaenssler im Gespräch mit Christin Müller

Auf Einladung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden entwickelte die Münchner Künstlerin Katharina Gaenssler eine Intervention anläßlich der Ausstellung „Die Sixtinische Madonna. Raffaels Kultbild wird 500“, die vom 26. Mai bis 26. August 2012 in der Gemäldegalerie Alte Meister zu sehen war. Im ersten Obergeschoß des Semperbaus, im Oktogon zwischen Italiener- und Niederländer-Enfilade stehend, blickten die meisten Besucher vermutlich verwundert in Richtung des weltberühmten Gemäldes von Raffael. Der Italiener-Flügel schien um das Doppelte verlängert, statt der im Raumplan eingezeichneten drei Ausstellungsräume waren nun sechs zu sehen. Raffaels „Sixtina“ wirkte, als sei sie in fast unerreichbare Ferne gerückt: Die Stirnwand der Raumflucht war fast vollständig von einem Gobelin bedeckt, der nach einer digitalen Vorlage Gaensslers, einer Montage von tausenden digitalen Fotografien, gewebt worden war. Christin Müller, Stipendiatin im Programm Museumskuratoren für Fotografie der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, sprach mit der Künstlerin über Intention und Faktur.

Christin Müller: Im Zentrum Ihrer Arbeit „Sixtina 2012“ steht Raffaels „Sixtinische Madonna“. Zunächst planten Sie, sich auf das Gemälde selbst zu konzentrieren. Wie kam es zu der Entscheidung, die Raumflucht des Italiener-Flügels in der Gemäldegalerie einzubeziehen?

Katharina Gaenssler: Die erste Reaktion – ungeplant, aber naheliegend – ist es gewesen, auf das Gemälde selbst zu blicken, zumal der Auftrag der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden an mich der gewesen ist, einen ‚Ersatz’ zu schaffen für den Zeitraum, in welchem die Sixtinische Madonna ihren Platz verlassen würde: eine Form irgendwo zwischen Fake oder Rekonstruktion, Bautafel und Verhüllung, denn Rahmen und Sockel der „Sixtina“ mußten aus konservatorischen Gründen ja stehen bleiben. Es ist ein überwältigender und eindringlicher Moment, wenn man aus der Ferne, die Treppe herabsteigend, die in unser Bildgedächtnis eingebrannte, bogenförmige Kontur der Madonna zum ersten Mal im Original erblickt, am Ende der signifikanten Raumflucht der Gemäldegalerie. Beobachtet man die Pilgerströme, Menschenmassen, die von überall hierher kommen, um das Gemälde zu betrachten, stellt man sich unweigerlich die Frage, was diese Menschen jetzt beim Anblick der Madonna erleben, denken, spüren. Diese außergewöhnliche Situation und einmalige Konstellation der genannten Fragestellung waren für mich schließlich der Grund, die Abwesenheit, die Unerreichbarkeit, eben den Verlust der Madonna an dieser Stelle zu thematisieren.

C.M.: Durch die Verdoppelung der Raumflucht in Ihrer Installation lenken Sie das Augenmerk auf die Ausstellungsarchitektur. Anders als bei früheren Projekten fotografieren Sie hier nicht die leeren Ausstellungsräume und projizieren diese auf sich selbst. Stattdessen fotografieren Sie in Dresden die Räume mit den Gemälden und verkleinern in Ihrer Installation das, worauf die Raumflucht hinführt: die Sixtinische Madonna. Dabei entsteht eine Perspektivverschiebung, bei der sich die Distanz der Besucher zu Raffaels Gemälde vervielfacht. Was intendieren Sie damit?

K.G.: Es gab sehr wohl auch Installationen, für die ich Ausstellungsräume samt ihrer Exponate „transportiert“ habe; beispielsweise habe ich für eine Ausstellung in der privaten, salonähnlichen Berliner 18m-Galerie einen Raum mit Gemälden des Sozialistischen Realismus der Nationalgalerie Tirana fotografiert. Es geht es mir hier auch nicht vorrangig um die Ausstellungsarchitektur, sondern vielmehr um Sehgewohnheiten und Wahrnehmung, um Projektion und Perspektive. Dabei intensiviert die „Perspektivverschiebung“ die Sogwirkung, die, so beschreibt es Michael Hering (Konservator fur Moderne und Gegenwart im Kupferstich-Kabinett, Anm. d. Red.) im Katalog der Jubiläumsausstellung, „von der Raumflucht ausgeht und die die ohnehin hohe ‚physische Präsenz’ [...] der Madonna noch steigert [...] die Idee einer unüberbrückbaren Distanz, zwischen den Welten, die dem Gemälde [selbst] innewohnt“. Aber einen Zustand zu zeigen, der nicht existent ist, hier beispielsweise die Gemälde der Galerie abhängen zu lassen, eine Situation zu inszenieren, interessiert mich nicht. Auslöser für meine Arbeit ist eine Überforderung an dem was da ist, an dem, was mich umgibt. Meine Methode ist etwas wie eine Waffe, ein System zur Verarbeitung der auf uns einströmenden Bilderflut. ... so ist die Realität mir schon mehr als genug!

C.M.: Was verbindet die Räume, die Sie fotografieren?

K.G.: Immer sind es Räume, die in Verbindung mit der „Institution Kunst“ stehen: Museums- und Ausstellungsräume, Ateliers und Archive. Es sind Orte des Sammelns, Bewahrens und Vermittelns.

C.M: Wie muß man sich Ihr Vorgehen vorstellen? Sie arbeiten fast kartografisch und tasten die Räume in einer gerasterten Systematik ab – und Sie zeigen das auch. Inwieweit steuern Sie die Brüche und Störungen zwischen den Einzelbildern, die durch unterschiedliche Perspektiven, Schärfen und Belichtungszeiten erzeugt werden?

K.G.: Ich gehe immer systematisch vor. Von verschiedenen Standpunkten aus „scanne“ ich nach einem imaginären Raster, von links nach rechts, von oben nach unten, die Räume in bisweilen zigtausenden von Einzelbildern ab. Anschließend werden die Bilder am Rechner wieder zu einem Ganzen montiert. Während der Aufnahme ist die Kamera auf automatische Belichtung eingestellt, sie reagiert auf die sich Bild für Bild, mit jedem Detail verändernden Lichtverhältnisse. Zusammen mit manuell eingestellter Schärfe, also wechselnder Schärfeebene zwischen später benachbarten Einzelbildern, ergeben sich starke Brüche und Unterschiede in Farbigkeit und Tonwert der Fotos. Als Gesamtbild entsteht eine mosaikartige, kaleidoskopische Abbildung des Raumes. Der natürlichen Wahrnehmung, auch der gewohnten fotografischen Darstellung mit ihrer Einheit von Ort und Zeit wird damit etwas anderes, offenkundig und sichtbar Konstruiertes entgegengestellt. Gerade durch die Vielzahl von Einzelbildern und deren Nuancen wird das Auge des Betrachters gezwungen, sich zu bewegen, von Bild zu Bild zu springen. Die Krümmung des Deckenfrieses im Gobelin beispielsweise ist eine rein optische Verzerrung. Sie sorgt als weitere Störung dafür, daß der Betrachter Bildraum mit Realraum vergleichen kann, das Medium, die Abbildungstreue hinterfragt. So zumindest meine Intention.

C.M.: Wie haben Sie die Standorte bestimmt, von denen Sie fotografiert haben?

K.G.: Meine Aufstellung entwickle ich nach bestimmten Regeln, jeweils im Hinblick auf Kubatur, Proportionen und Inhalte eines Raumes und Format der Ausstellungsflächen. Während ich aber sonst mehrere Perspektiven zu einer Abwicklung eines Raumes ineinander verzahne, benutze ich hier im Prinzip nur eine zentrale Perspektive von drei Standpunkten auf der Mittelachse aus, in jedem der drei Räume der Enfilade an gleicher Stelle, was mir gewissermaßen durch die Architektur vorgegeben war. In der Gesamtmontage verkleinert sich dadurch das Format der Einzelbilder von Türrahmen zu Türrahmen. Die Madonna ist hier schließlich nur noch ein Viertel so groß, wie ihr Original.

C.M.: Überspitzt könnte man ein solches Vermessen der Räume mit einer Kamera als eine akribische Dokumentation bezeichnen. Wie viel subjektive Wahrnehmung steckt in den Installationen?

K.G.: Vielleicht muß man hier trennen zwischen der Aufnahmephase und dem montierten, installierten Bild. Denn für mich ist diese Methode, einen Raum fotografisch zu vermessen, tatsächlich ein System zur Analyse und Archivierung, der Versuch einer möglichst neutralen, wertfreien, fast archäologischen Vorgehensweise. Dennoch ist es für die Entwicklung eines solchen Systems natürlich notwendig, Entscheidungen zu treffen, Regeln aufzustellen. Die Synthese, das montierte Gesamtbild mit all seinen Irritationen, erscheint in seiner Umgebung zwangsläufig subjektiv.

C.M.: Wie verorten Sie Ihre Arbeit zwischen Installation und Fotografie?

K.G.: Ich habe keine fotografische Ausbildung und bezeichne mich auch nicht als Fotografin. Als gelernte Silberschmiedin empfinde ich meine Arbeit vielmehr als bildhauerisches Handeln. Material, Textur und handwerkliche Techniken stehen für mich im Vordergrund. Zugleich ist nicht von der Hand zu weisen, daß ich mich sehr wohl des Mediums der Fotografie bediene, und meine Methode hat sich erst mit der digitalen Fotografie entwickelt. Die Montage, Manipulation und Bearbeitung des Bildmaterials werden bei der Rezeption heute mittlerweile automatisch mitgedacht. Meine Methode erzählt dabei viel über die Technik der Fotografie und über ihre Produktionsmittel als Voraussetzungen unseres Blicks auf die Welt. Während eines Arbeitsprozesses durchlaufen die Bilder verschiedene Medien (Kamera, Rechner, Drucker usw.), deren Einstellungen dabei von mir bewußt nicht korrigiert werden. Das heißt umgekehrt: Ich überlasse Farbigkeit und Tonwert jedes Fotos von der Aufnahme bis hin zu seiner Ausgabe einer Summe von Geräten.

C.M.: Warum haben Sie sich entschieden, für die Dresdener Gemäldegalerie einen Gobelin weben zu lassen statt wie bisher die Montage selbst an der Wand auszuführen?

K.G.: Es waren sowohl äußerliche wie inhaltliche Gründe. Von vornherein war klar, daß ich nicht wie bisher Farblaserdrucke direkt auf die Wände eines Ausstellungsraumes kleben konnte. Denn natürlich sind Feuchtigkeit und Kleister aus konservatorischen Gründen in der Gemäldegalerie fehl am Platz. Außerdem war maximal ein Tag Aufbauzeit vorgegeben. Für die konkrete Lösung spielte ganz wesentlich das Bedürfnis eine Rolle, der Würde der Madonna und der Räumlichkeiten mit einem im Modus angemessenen Material gerecht werden zu wollen. Bei der Lösung half, daß ich aus München die dortigen Raffael-Gobelins kenne. Darunter ist mir vor allem die Schule von Athen im Kopf gewesen, denn sie bildet in multipler Perspektive ebenso eine Raumflucht ab. Wie übrigens auch die Stanzen selbst eine Reihe von vier auf einer Flucht hintereinander liegenden Gemächern sind. Die Akademie der Bildenden Künste in München besitzt zehn Raffael-Gobelins aus der vierten, 1730 bis 1737 gewirkten Auflage. Während meines Studiums wurden sie in der Aula der Akademie neu installiert und sind seither dort wieder permanent zu sehen. Der Gobelin für den Sixtina-Saal in Dresden ist also auch eine Würdeform mit direktem Bezug zu Raffael. Und er ist nicht nur Tapisserie, Wandbedeckung oder Wandschmuck, sondern auch Verkleidung für Sockel und Rahmen der „Sixtinischen Madonna“. Zudem spielt er ikonografisch auf den Vorhang im Gemälde selbst an, wie Claudia Schnitzer (Oberkonservatorin für deutsche Kunst des 15.-18. und 20./21. Jahrhundert im Kupferstich-Kabinett, Anm. d. Red.) im Ausstellungskatalog schreibt: „Das Motiv des Vorhangs rekurriert damit auf den beiseite geschobenen Vorhang in Raffaels Bild selbst, welcher den Blick freigibt auf die Epiphanie. Er [...] bezeichnet den Übergang, die Schnittstelle zwischen der realen Welt des Betrachters und der himmlischen Sphäre, aus der Maria mit dem Kind herauszutreten scheint [...].“

An der unteren Kante des Gobelins trifft das gewebte Parkett auf das hölzerne und setzt dessen Struktur fort, so daß man fast glaubt, in den Gobelin hineinlaufen zu können. Diese Illusion wird mit den Kordelständern gebrochen. Eine Bodenfalte des Gobelins verkürzt den Bildraum, so daß die Ständer dort, ihrer Funktion enthoben, ein Eigenleben beginnen. Die ovale Sitzbank in der Mitte des Sixtina-Saals – im Gobelin an der richtigen Stelle – fehlt wiederum im Ausstellungsraum. Sie wurde weggeräumt, um den Blick auf den Gobelin freizumachen und dem Buchobjekt, das wie bei allen Arbeiten Katharina Gaensslers zum Werk gehört, auf einem Semper-Tisch Raum zu geben. Übrig ist nur ein von den Füßen der Besucher blank gescheuerter Bereich, der eine Aureole bildet. Dieses Spiel des Verdoppelns, Verdeckens und Versteckens erinnert an den Widerstreit von Realität und Fiktion bei „Alice im Wunderland“. Wie Alice befindet man sich plötzlich in einer anderen Welt, die gleich erscheint und doch anderen Regeln unterliegt und damit beide Welten in Frage stellt. Hinzu kommt eine Korrespondenz innerhalb der Gemäldegalerie: Raffaels „Sixtina“ ist für die Jubiläumsausstellung vorübergehend in das Erdgeschoß umgezogen und hängt dort im so genannten Gobelin-Saal, wo bislang fünf Gobelins von Raffael zu sehen waren. Sie zeigen Szenen aus dem Leben der beiden Apostel Petrus und Paulus nach Kartons, die Raffael im Auftrag von Papst Julius II. entworfen hatte, und gehörten seit 1728 zur Sammlung von August dem Starken.

CM: Wie hat sich ihre Arbeitsweise durch das neue Material verändert?

K.G.: Es war ein großes Experiment, ein gewagter Blindflug, wenn ich ehrlich bin. Das fremde Material war eine Herausforderung und die enge Zusammenarbeit mit dem dafür notwendigen Vertrauen in das Tun und die Entscheidungen einer anderen Person für mich eine neue Erfahrung. Dennoch plante ich natürlich auch hier in Simulationen und am Modell. Gesamteindruck und räumliche Wirkung lassen sich auf diese Weise sehr gut einschätzen. Zwar gab es Absprachen, Testmaterial und auch Korrekturen, Erfahrungswerte mit Textilien aber hatte ich bis dato nicht. Wir haben uns während der Produktion beispielsweise für einen Fadenwechsel entschieden – ein rötliches Garn wurde gegen eines mit bräunlich-orangenem Ton ausgetauscht. Wie sich eine solche Entscheidung auf die Gesamtfläche des Gobelins von knapp 65 m2 auswirken würde, das konnte ich an Hand eines Musters schwer einschätzen. Nicht nur diese Frage bedingte Vertrauen und Verlaß auf die Erfahrungen von Marcos Ludueña-Segre (Flanders-Tapestries, Belgien, Anm. d. Red.). Das Verhältnis zwischen zeitaufwendigem Montieren der Fotoinstallationen aus bisweilen Tausenden von Einzelblättern und deren spätere Zerstörung hat für mich übrigens Ähnlichkeit mit der hier kostenintensiven Herstellung des Gobelins für einen Zweck von nur relativ kurzer Dauer. Beides ist auf gewisse Weise ein ebenso lustvoller, wie luxuriöser Umgang mit Zeit und Geld.

C.M.: Wie schreibt sich der tatsächliche Raum in Ihre Bilder ein, und wie wirkt umgekehrt der Gobelin in den Ausstellungsraum zurück?

K.G.: Maß und Proportion eines Raumes haben immer unmittelbar Einfluß auf die Bilder. Die sich ändernden Lichtverhältnisse während der Aufnahmen – innerhalb von drei Tagen und drei Nächten entstanden 5.750 Fotos für den Gobelin – verursachen Farbunterschiede in den Einzelbildern. Erst solche Störungen bewirken das Verwirr- und Vexierspiel zwischen Real- und Bildraum. Insbesondere entsteht dieses Trompe-l’Œil in den Bereichen, in welchen der Bildteppich in den Raum übergeht, das heißt, auf dem Boden aufliegt, oder sich die abgebildeten Kordelständer mit ihren Originalen im Raum verbinden.

C.M.: In Ihren Büchern zu den Installationen versammeln sich sonst alle für die jeweilige Arbeit aufgenommenen Fotografien. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Installation vor Ort und den dazu entstehenden Büchern?

K.G.: In diesem speziellen Fall habe ich für das Buch und für den Gobelin jeweils unterschiedliches Bildmaterial angelegt. Normalerweise aber werden alle Einzelbilder chronologisch, ohne Aussortieren in meist mehrbändigen Buchobjekten versammelt. Nur ein Teil dieses Konvoluts wird jeweils für die Montage an der Ausstellungswand verwendet, ist temporär im Ausstellungsraum zu sehen, auf der Wand offen ausgebreitet, aufgefächert. Danach werden die Laserdrucke wieder von den Wänden gerissen und die dabei entstehenden Décollagen werden archiviert. Die Bücher sind so etwas wie mein Gedächtnis – Archive des Gesehenen und Empfundenen, Ablage von Information und deren permanente Verfügbarkeit, sie sind die Möglichkeit zu permanentem Zugriff auf das Material und dessen Bildinhalt im übertragenen Sinne. Die Bücher sind also das, was mir von einem Projekt bleibt. Und auch das, was mir daran am wichtigsten ist. Die Installationen hingegen sehe ich als einen temporären Ausschnitt der Konvolute, als eine einmalige Aufführung der jeweiligen „Partitur“. Im besten Falle funktioniert es wie Musik: Sie ist da für einen kleinen Moment und kurz darauf existiert sie nur mehr in der Erinnerung.

C.M.: Für Ihre Fotografien im Künstlerbuch sind Sie der „Sixtina“ mit Ihrer Kamera so nah gekommen, daß sie sich auf den Buchseiten fast auflöst. Tritt man an den Gobelin heran, zerfällt auch hier das Bild in die einzelnen Fäden. Wo wird das Material selbstständig?

K.G.: Konzept war, die Madonna zwar abzubilden, sie aber doch nicht zu zeigen, dem Besucher die Gesamtinformation zu entziehen, ihn auf das kollektive wie eigene Gedächtnis, auf die „Bilder zwischen den Bildern“ zurück zu werfen. Es interessiert mich hier der Bruch zwischen Gesamteindruck und banalem Detail, die Schnittstelle zwischen Fläche und Raum, der Übergang von Material zu Fotografie, der Moment, in dem sich das Bild für den Betrachter auflöst bzw. umgekehrt, als real erscheint, die Frage danach, wie sehr ergänzen Wissen und Erfahrung das Sehen. Es ist ein Versuch, die Grenzen der Fotografie auszuloten. Bernhard Maaz (Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister und des Kupferstich-Kabinetts, Anm. d. Red.) benennt es im Galeriegespräch zum Künstlerbuch „Sixtina MMXII“: „Annäherungen in beiderlei Gestalt, als Mikrokosmos im Detailbild und als Makrokosmos im Raumbild“. Schon immer ist die Auflösung in Einzelbilder essentieller Teil meiner fotografischen Arbeit. Vielleicht ist das ein Rudiment oder besser, eine Errungenschaft aus meiner Zeit als Silberschmiedin: das Detail im Gesamten, das Einzelne im Ganzen zu betrachten.

Im gewebten Textil setzt der Zwirn das fort, multipliziert förmlich, was ich während der Fotoaufnahmen schon mit der Zerlegung des Raumes gemacht habe. Bei einer Auflösung der digitalen Vorlage in etwa 50 Kett- bzw. 130 Schußfäden pro Zentimeter bekommt die Abbildung eine extrem hohe Präzision im Vergleich zu historischen Gobelins. Der Betrachter erkennt hier erst aus unmittelbarer Nähe das Material und dessen feine Rasterung, ähnlich wie das Korn einer analogen Fotografie oder eben die Pixel eines Digitalbilds. Es wäre schön, der Besucher könnte den Gobelin in der Galerie berühren und auch von der Rückseite betrachten, denn dort erscheint das Negativ der Vorderseite! Was im Museum natürlich unmöglich ist.

C.M.: Erstmals bleibt mit „Sixtina 2012“ Ihre komplette Installation erhalten und könnte an einem anderen Ort und Zeitpunkt nochmals gezeigt werden. Können Sie sich das vorstellen?

K.G.: Nein. Und ich weiß, daß das in einem gewissen Widerspruch zur Allgegenwart des Ausgangsmaterials, der Fotografien, steht. Die Inhalte für eine Installation werden jeweils im Zusammenhang einer Ausstellung, immer für einen speziellen Ausstellungsort und -zeitraum entwickelt. Aus diesem Grund werden sie generell andernorts nicht wieder aufgeführt. Auch der Gobelin ist für diesen Ort und diese Zeitdauer konzipiert. Der Realraum spielt eine wesentliche Rolle, ist Teil des Gesamtbildes. Anders als in den temporären Installationen mit Laserdrucken, bleibt der Gobelin über den Ausstellungszeitraum hinaus zwar erhalten, wird aber nirgends, außerhalb des für ihn hier vorgesehenen Ortes, sinnstiftend sein. Nur hier gehört er hin! Wobei man hinzufügen muß, daß es nicht selbstverständlich ist, daß eine Intervention zeitgenössischer Kunst in diesem Umfang und Ausmaß in Räumen, die für gewöhnlich den „Alten Meistern“ vorbehalten sind, überhaupt denkbar ist und daß diese Arbeit ohne die großzügige und unermüdliche Unterstützung von Bernhard Maaz und Michael Hering, Andreas Henning und vieler weiterer Personen am Haus sicher nicht realisierbar gewesen wäre.

C.M.: Inwiefern kann die „Sixtinische Madonna“ durch Ihre Arbeit neu gesehen werden?

K.G.: Wenn es um ein „Neu-Sehen“ im wörtlichen Sinne geht, so gilt das wohl am ehesten für das Buch. Hier sieht man Raffaels Duktus, seine Vorzeichnungen, die vertikalen Nähte der drei Leinwandbahnen, Ausbesserungen und Restaurierungen, die Geschichte des Gemäldes, die dem normalen Besucher für gewöhnlich, schlicht auf Grund des in Museen üblicherweise einzuhaltenden Mindestabstands, verborgen bleiben. Man meint zu sehen und zu spüren, mit welch hohem Tempo gemalt wurde und wie rasant dabei Entscheidungen von beeindruckender Sicherheit und ungeheurer Tragweite getroffen worden sind. Gegen das „Neu-Sehen“ spricht die Fernwirkung der Madonna. Als säkulares Kultbild behält sie ihren Wiedererkennungswert auch in der Reproduktion, gleich welchen Formats und Stils. Ob aber jemand Raffaels Madonna durch meine Arbeit anders sehen, anders erfahren kann, das bleibt dahingestellt. Das aber, was Michael Hering eine „fotografische Distanznahme“ nennt, ist für mich Methode, die eigenen Verhaltensweisen und Wahrnehmungsgewohnheiten zu hinterfragen.

Publikationsort
Rundbrief Fotografie, hrsg. v. Klaus Pollmeier, Wolfgang Hesse, Vol. 19 (2012), Nr. 3, (N.F. 75), S. 22-28
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