Huda Takriti. "I will leave this for you to finish"
Huda Tarktis Film On Another Note (2024) beginnt mit nächtlichem Zirpen von Grillen und vielstimmigen Vogelgesängen, die sie an Familienbesuche im Libanongebirge erinnern. Dazu sehen wir Detailaufnahmen von japanischen Lackmalereien auf einem Fotoalbum aus ihrem Familienbesitz, die eine kolonial geprägte Vorstellung des so genannten Orients zeigen und vermutlich als Sehnsuchtsmotive zu lesen sind. Während ich diesen Text schreibe, sind die Nächte auch hier mit den wohlig warmen Klängen der Grillen und Vögel ausgefüllt. Am Tag beunruhigen die Nachrichten über den Krieg aus Israel und Gaza, dessen Ausgang genauso ungewiss ist wie die Langzeitfolgen für die Bevölkerung. Huda Takriti beschäftigt sich in ihrem künstlerischen Werk mit den politischen Spannungsverhältnisse im Nahen Osten, die auch ihre Familie prägen. Sie verschiebt die Perspektive von den tagesaktuellen Ereignissen zu den Auswirkungen von Migration auf das kollektive und individuelle Bildgedächtnis und sucht alternative Formen von Archiven, die sich historisch geprägten Machtverhältnissen widersetzen. Souhier Takriti, Huda Takritis Mutter nutzt das Album in On Another Note für Bilder aus dem Arbeitsleben ihrer Mutter. Die Fotografien zeigen Hikmat Al-Habbal als moderne, erfolgreiche Textilkünstlerin, mit ihren Werken, bei Ausstellungseröffnungen und als Dozentin mit Studierenden und Kolleg*innen in den 1960er Jahren in Kuwait. Während die Mutter durch das Album blättert oder mit Textilarbeiten hantiert, erfahren wir, dass die Großmutter für ihre Sarmah-Stickerei ohne vorgefertigte Muster direkt auf Stoffe zeichnete, dass Regierungsmitglieder häufig ihre Werke und die ihrer Studierenden direkt aus den Ausstellungen kauften, dass ihre Schwester sich für die Bildung von Frauen in Kuwait einsetzte und die kuwaitischen Prinzessinnen unterrichtete. Wir erfahren auch, was nicht auf den Fotografien zu sehen ist: dass Hikmat Al-Habbal einen Geflüchteten heiratete, der aufgrund seines syrisch-palestinensischem Reisedokuments alle sechs Monate einen neuen Aufenthaltsgenehmigungsprozess durchlaufen und währenddessen sein Geschäft schließen musste, dass die Familie auch im Libanon nicht bleiben konnte, weil der Vater nicht in eine andere Religion konvertieren wollte, und schließlich nach Syrien zog. Die Brüchigkeit Familiengeschichte übersetzt Huda Takriti auf die visuelle Ebene. In ihrem zwei-Kanal-Film stehen Bilder und Texte nebeneinander oder liegen übereinander. Sie befragen, kontrastieren und verdecken sich und stellen so eine Verbindung zu dem Abwesenden oder auch Möglichen her. Einige Aufnahmen hat Huda Takriti invertiert, um sie im Negativ betrachten zu können und andere Bedeutungen zu finden. In der Mitte des Films berichtet Souheir Takriti, dass ihre Mutter einige Textilarbeiten begonnen und ihr gezeigt hat, wie sie diese mit repetitiven Mustern zu Ende führen soll, als Erinnerungsstücke für ihre Enkel, die von deren Mutter und Großmutter hergestellt wurden. Weil sie keine Geduld für diese Arbeit hat, überlässt sie das Fertigstellen ihrer Tochter. Die intergenerationelle Verbindung stellt sie über wiederholtes Erzählen der Familiengeschichte her. Huda Takriti entscheidet sich auch gegen die gleichförmige Fortsetzung der Stickereien. Sie nimmt die Textilarbeiten als Ausgangspunkt, um eine neue „potentielle Geschichte“ zu erzählen. Mit diesem Begriff beschreibt Ariella Aïsha Azoulay die Unabgeschlossenheit von Geschichte. Entgegen der imperialistischen Annahme haben Ereignisse kein Anfang und Ende in der Vergangenheit, sondern setzen sich in der Gegenwart fort. Im Rückgriff auf historische Momente, kann man vor der Gewalt und Ungerechtigkeit ansetzen. Nötig sind „different forms of ‚de,‘ such as decompressing and decoding; ‚re,‘ such as reversing and rewinding; and ‚un,‘ such as unlearning and undoing“,1 um eine Alternative Vergangenheit und Zukunft zu entwickeln. Eine materielle Gestalt nehmen diese Annahmen in Revisitation. In Three Acts (2024) an. Für Act One hat Huda Takriti Filmstills aus On Another Note auf Stoffe gedruckt. In installierter Form wirft dieser Falten, Teile der Bildinformationen verschwinden, andere schieben sich zusammen, entfalten sich neu und die lineare Erzählung des Films bricht auf. In Act Two zeugen Klebespuren auf Rückseite einer Fotografie von der Migration von Bildern durch verschiede Kontexte. Für Act Three hat Huda Takriti Fragmente von zwei Textilarbeiten ihrer Großmutter digital zu einer großen Bildcollage verwoben.
„How do you measure the distance between a vague dream and an image?“2
Familiengeschichten und Fotografie verbindet das Potential zur Fiktion. Beide schaffen Abziehbilder einer Welt, die sich aus der Realität heraus entwickeln, als dokumentarisch empfunden werden und doch nicht selten zur Manipulation tendieren. In dem Film Of Cities and Private Living Rooms (2020) eröffnet sich ein Kaleidoskop an Erzählsträngen, die mit einer Begegnung von Huda Takritis Mutter und Urgroßmutter beginnen, zu der substantiellen Frage „Do we need the truth?“ führen und schließlich mit der gedanklichen Vermessung von Distanzen und Jahren zwischen Städten im Nahen Osten enden. Die Begegnung der Frauen stellt sich als Traum heraus, denn die Urgroßmutter fliegt in der Erzählung plötzlich mit Flügeln davon. Deren Herkunft aus Polen oder Russland ist in Huda Takritis Familie ein offenes, nicht vollständig gelöstes Geheimnis, das Ausgangspunkt für diese Arbeit ist, aber nicht weiter aufgeschlüsselt wird. Ein vielschichtiger Bilder- und Gedankenstrom nähert sich statt dessen Frage nach der Wahrheit an und führt schließlich zu grundsätzlichen Überlegungen darüber, wie variabel sich Erzählungen in unterschiedlichen Bildzusammenstellungen entwickeln.
„Images are both fictional and real. They reflect on each other, look at each other. They retell the past over and over again. There is never one image alone. There is always one that tries to eliminate the other.“
Historische Amateurfilme aus dem Libanon aus treffen auf stille und bewegte Bilder aus öffentlichen Archiven von Bibliotheken und Zeitungen aus dem Nahen Osten und Polen,3 auf selbst gefilmte Bilder von Innenräumen und Landschaften. Dabei verschwimmen Orten und Zeiten, identifizierbare Sehenswürdigkeiten und unbestimmte Orte, dokumentarische Blicke und abstrakt-träumerische Einsprengsel. Die Migrationsgeschichte von Huda Takritis Familie nimmt in einer begleitenden Diashow eine konkretere Form an. Von den Facebook-Profilen ihrer verzweigten Verwandtschaft hat sie Familienbilder heruntergeladen, die in ihrer sichtbaren Materialität historisch wirken und doch nur noch als Digitalisate existieren. Erfahren wir von solchen Familienbildern mehr als durch dokumentarisch anmutenden Landschaftsaufnahmen – oder gesellen sich einfach weitere Variationen über die Vergangenheit hinzu? Wie verändern sich die Erzählung von Bildern über die Zeit? Ist das Rätselhafte, das Raum für Fiktion enthält, die passendere Antwort auf die Frage nach der Wahrheit als der Versuch eine detailgetreue Recherche abzubilden?
Mit fotografischen Bildern aus öffentlichen und privaten Archiven forscht für Huda Takriti nach der Beschaffenheit von Archiven als Orte der Wahrheitsproduktion und geht der Frage nach, wie sich historisch gefestigte Narrative durch Formen der Kontaminierung, das Herauslösen oder Einflechten von unbeachteten Informationen, verändern lassen.4 Explizit thematisiert sie dies in dem Film Refusing to Meet your Eye (2022), der mit einer Kamerafahrt durch ein endlose Archivregale beginnt. Das Archiv ist künstlich gerendert, es steht unter Wasser, befindet sich auf dem Mond und ist dennoch prototypisch. Ordentlich und effizient sind Archivboxen aufgereiht. Ihr Inhalt bleibt uns verborgen. Mit einem rasanten Bilderstrom von Ereignissen aus dem Jahr 1969 setzt der Film fort: erste Mondlandung, Tod eines Aktivisten der Black Panther Bewegung, Michael Jacksons erster Auftritt mit den Jackson Five, Amtsantritt von Richard Nixon und Jassir Arafat, Soldaten im Vietnamkrieg, Studentenproteste in Tokyo und Rom, das Ende des Prager Frühlings, Arbeiteraufstände in England… Viele Bilder können wir einordnen, denn die fotografierten Personen und Ereignisse haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Während verhältnismäßig wenige ikonische Bilder bzw. Aufnahmen weniger weltpolitisch entscheidender Momente in der Öffentlichkeit kursieren, lagern in Archiven unzählige Bilder und warten darauf gesucht zu werden. Das Jahr 1969 wählt Huda Takriti aus, weil in diesem die erste Flugzeugentführung stattfand, bei der eine Frau federführend war. Wissend um die Bedeutung der Dokumentation dieses Unterfanges für Archive, hatte die Front for the Liberation of Palestine (PFLP) einen Fotograf beauftragt. Dieser vergaß jedoch im entscheidenden Moment den Objektivdeckel von der Kamera zu nehmen, so dass kein Bild von der Sprengung des nach Damaskus umgeleitenden leeren Flugzeugs entstand. Den vielen ikonischen Bildern steht so eine schwarze, nicht gemachte Aufnahme sowie die Geschichte einer Freiheitskämpferin gegenüber und repräsentieren die vielen Lücken in Archiven. Huda Takriti reagiert darauf mit einer umfangreichen Recherche. Sie durchleuchtet sprichwörtlich das gefundene Material und zieht mit ihren Archivfunden immer größere inhaltliche Kreise – von dem späteren Fotografien und Berichten über die Entführerin hin zu grundlegenden Überlegungen darüber, wie Fotografien die Vergangenheit in Archiven repräsentieren. Mit diesen Gedanken werden wir im Film ins Weltall geschleudert, landen auf der Mondoberfläche und die Kameraperspektive im Archiv kippt.
„But not every image is an evidence of the past, nor is its absence an evidence of non-existence. Absence of evidence is not an evidence of absence. […] What is not photographed does not disappear. It spreads between the seen and the unseen filling the space between story and history.“
Die Arbeiten von Huda Takriti sind sehr dicht. Auf der Bild- und Textebene thematisiert sie, neben dem, was sie mit ihren Arbeiten sichtbar macht, produktive Lücken. Mit Andeutungen und Rätselhaftem, mit losen Enden in den Erzählungen fordert sie uns auf, auf Leerstellen zu reagieren und uns positionieren. In der Fotoserie Against Nostalgia verdeckt Huda Takriti etwa mit Händen in weißen Handschuhen einen Großteil von historischen Postkarten, die sie auf Ebay erworben hat. An den noch sichtbaren Resten können wir gerade noch ablesen, dass sie aus der Kolonialzeit stammen und mit ihnen exotisierende Motive versendet wurden. Die Handschuhe verweisen auf Archivzusammenhänge, deren Positionierung könnte für eine Unentschlossenheit stehen: Können solche Motive noch gezeigt werden und wenn ja wie? Das Bildzentrum müssen wir uns vorstellen, interessant ist welche Motive uns einfallen und was diese über unsere Haltung gegenüber kolonialer Bildästhetik aussagt. Damit ließe sich der Kreis zu der Aufforderung von Huda Takritis Großmutter schließen, die an dieser Stelle auch uns trifft: „I will leave this for you to finish!“
1 ↩ Ariella Aïsha Azoulay, Potiential Hirstory. Unlearning Imperialism, London/New York, S. 8.
2 ↩ Diese und die folgenden eingefügten Zitate stammen aus Huda Takritis Film On Another Note (2024).
3 ↩ Die Bilder und Filme stammen u. a. aus: The International Institute for the Conversation, Achiving and Distribution of Other People’s Memories (IICADOM), Screen Traveler: Damascus and Jerusalem (1936), Mary visits Poland (1946), der Library of Congress, Prints and Photographs Devision, Keystone-Hulton Archive / Getty Images und khaleej times.
4 ↩ Diese Verknüpfung von Archiven mit Diskursen des Dokumentarischen und das Ernstnehmen des Archivs als Ort der Bedeutungsproduktion über die Kategorisierung und Ordnung von Fotografien untersucht Ines Schaber in Obtuse, Flitting by, and Inspite of All – Image Archives in Practice. Notes on Archives 1 (Berlin/Graz, 2018).