Inszenierungen einer Ideologie
Geschichte hinterlässt Spuren in Architektur, Räumen und Gegenständen. Alltägliche Handlungen schürfen sich ebenso wie politische Haltungen in das ein, was uns umgibt. Solchen Spuren geht Johanna Diehl mit ihren Fotografien nach. Es interessiert sie, »inwiefern sich eine Idee, eine Ideologie, eine Erinnerung in der Dingwelt manifestiert«1. Die von ihr fotografierten Räume sind Spiegel der Menschen, die sie geschaffen haben und die sie benutzen. Es sind Orte, an denen sich ein »kollektives und individuelles Bewusstsein ablagert«2 und die sich somit als Indikatoren für eine sozial geformte, politische Dimension lesen lassen.
Mit Borgo, Romanità, Alleanza und Ufficio untersucht Johanna Diehl, auf welche Weise eine bestimmte ästhetische Formensprache zu Herstellung und Erhalt von Machtstrukturen eingesetzt wird. Wie vielfältig waren die Stützpfeiler des Regimes? Transportieren sie ihre visuellen Botschaften bis in die Gegenwart? Die hier vereinten Serien, die allein und als Gruppe gelesen werden können, beleuchten vier Aspekte dieser spannungsreichen Beziehung zwischen faschistischer Ideologie und Architektur.
Benito Mussolini hat während seiner Amtszeit von 1922 bis 1943 so viele städtebauliche Projekte angeschoben wie kein anderer europäischer Diktator. Als direkt in den Alltag eingreifende nonverbale Kommunikationsform war Bauen für Mussolini ein geeignetes Mittel, um seine Ideologie in alle Gesellschaftsschichten zu tragen. Dem Diktator ging es aber nicht nur um die Formulierung und Verbreitung einer Ästhetik der Macht. Seine architektonischen Umwälzungen sind zugleich als Instrumente für die Umsetzung der faschistischen Sozial- und Gesellschaftspolitik zu verstehen.3 Nicht zuletzt war diese Architektur in ihrer repräsentativen Monumentalität auf eine mediale Wirkung hin ausgerichtet, die sich in Fotografie und Film entfalten sollte.
Wenn Johanna Diehl den Zeichen der faschistischen Ideologie im architektonischen Erscheinungsbild Italiens fotografisch nachspürt, initiiert sie eine Form der Kommunikation4 der zwei Übersetzungsvorgänge inhärent sind: erstens die Übersetzung der Ideologie in Architektur und zweitens die Übersetzung der Architektur ins fotografische Bild. Mit dieser doppelten Übersetzung5 und deren Auswirkungen auf die Bildrezeption beschäftigt sich der vorliegende Essay.
Borgo: Ein imaginiertes Dorf
Inmitten der hügeligen Landschaft Siziliens stehen Ansammlungen von Betonhüllen mit glaslosen Fenstern. Diese kleinen verlassenen Orte wurden im Zuge der Landreform von 1939 im italienischen Hinterland angelegt. Die sogenannten Borghi rurali, die nach faschistischen Helden benannt wurden, sollten eine Infrastruktur herstellen und gleichzeitig eine neue Art räumlicher und sozialer Ordnung etablieren – und verkörpern damit eine politisch motivierte Utopie. Die Großgrundbesitzer wurden gezwungen, ihr Land in je 25 Hektar große Flächen zu parzellieren und an Bauern zu verpachten. Dazu wurden mit den Borghi Dutzende kleine urbane Dienstleistungszentren geplant, die das ländliche Italien erschließen und attraktiver für die Bevölkerung machen sollten. Auf diese Weise sollten die Mittelsmänner der Großgrundbesitzer entmachtet werden, die uneingeschränkt und unkontrolliert über die Landbevölkerung herrschten und als Wiege der Mafia gelten.6
Inspiration für Johanna Diehls Arbeitsweise ebenso wie Vorläufer für die groß angelegte Landreform7 ist die tragisch-skurrile Geschichte um das Borgo Mussolinia, das in der Gegend von Caltagirone angesiedelt wurde: Ursprünglich als Gartenstadt geplant, sollte der Ort ein Vorzeigeprojekt des Faschismus werden und zu Ehren des Diktators dessen Namen tragen. Mussolini kam 1924 zur Grundsteinlegung und zeigte großes Interesse an der Entwicklung des Ortes. Aus praktischen und finanziellen Gründen kam der Bau jedoch nur langsam voran, wodurch der Wunsch des »Duce«, Bilder vom Fortschritt des Bauprozesses zu sehen, sich zu einem Problem entwickelte. In seiner Not stellte der Lokalpolitiker Benedetto Fragapane ein fiktives Fotoalbum zusammen und konstruierte so mithilfe der Fotografie einen in der Realität nicht existierenden Ort.8 Andrea Camilleri erzählt in seinem Roman Der Märtyrer im schwarzen Hemd, dass die Verantwortlichen das geplante Antlitz des Ortes aus Sperrholzkulissen zimmerten.9 In seiner Version dieser Geschichte entstand aus der Mischung von Aufnahmen ebendieser Kulissen und von Gebäuden aus umliegenden Orten das ersehnte Mussolinia wie eine Fata Morgana zwischen zwei Albumdeckeln.
Dieses Spiel mit Fiktionen und medialen Realitäten greift Johanna Diehl mit ihrer Arbeit Borgo auf und verweist darauf, dass, auch wenn sich die Borghi in der Peripherie von Mussolinis Handlungsradius befinden und die Architektur weit weniger repräsentativ als in Rom anmutet, die faschistische Ideologie ihnen sichtbar eingeschrieben ist. Über zwei Bildformen erschließt sich der Genius Loci der Borghi: In einem Album zusammengestellte kleinere Bilder analysieren die Struktur der Orte und zeigen die Gesichter der unterschiedlichen Gebäudetypen. Sie stellen sich dem Betrachter mit großen Wandflächen entgegen, wodurch sie monumental, aber auch abweisend und verschlossen anmuten. In der Zusammenstellung von Aufnahmen aller typischen Elemente dieser Plandörfer – zentrale Piazza, Kirche, Parteigebäude, Post, Schule und ein paar Geschäfte – entsteht auch hier ein fiktives Borgo.10
Mit großformatigen Fotografien verortet Johanna Diehl die Borghi zwischen Feldern und macht deren Raumlogik erfahrbar. Als Betrachter kann man in den Straßen umherwandern, steht quasi auf der Piazza und spürt die merkwürdige, majestätisch-vermessene Atmosphäre. Die Architektur zeugt vom Selbstverständnis ihrer Planer und weist ihren Bewohnern bestimmte Rollen zu. Das Parteigebäude musste mindestens genauso hoch sein wie der Kirchturm, ausladende Plätze sollten für Paraden und Versammlungen genutzt werden, Triumphbögen verweisen auf die Formensprache des alten Rom. In den Fotografien wirken die Straßenzüge seltsam entleert und erstarren zu unwirklichen, künstlich anmutenden Kulissen. Mit diesen Eigenschaften erinnern sie an Michel Foucaults Entwurf der »anderen Räume«, der sogenannten »Heterotopien«11. Damit beschreibt er Orte, die über eine besondere Beziehung zu der sie umgebenden Landschaft verfügen. Hier bekommen Dinge andere Funktionszuweisungen, es herrschen eine eigene Zeitlichkeit und andere Gesetze. Das besondere Herausstellen dieser heterotopen Charakteristik12 in Johanna Diehls Fotografien deckt das ideologische Kalkül auf: In den Gebäuden manifestiert sich die Idee des Spektakels und der Überwachung, die in Ansprachen und Aufmärschen der Faschisten oder auch als Hintergrund für Filmaufnahmen mit dem »Duce« ihren Ausdruck finden sollten.13 In zwei Diptychen arbeitet Diehl dieses theatrale Potenzial besonders heraus: Wenn sich das Gebäude in Borgo Bassi III über die Breite von zwei Fotografien ausdehnt, zeigt sich das fast dramatische Ausmaß der Architektur. Wiederum imitiert eine nur leichte Perspektiv- und Lichtveränderung bei Borgo Rizza I eine Kamerafahrt und spielt damit medienreflexiv auf die filmische Energie der Orte an. Die großformatigen Bilder erlauben auch einen Blick ins Detail und entlarven die Borghi als »potemkinsche Dörfer«14 – die Fassaden bröckeln, die Fenster haben keine Scheiben, der Asphalt ist rissig, das Gras verbrannt. Von Beginn an standen die meisten Borghi leer15, und von den vielen geplanten wurden lediglich acht gebaut16, die bis heute ein geisterhaftes Dasein zwischen Scheitern und Schönheit fristen.17
Romanità: Inszenierungen vergangener Größe
Muskelbepackte antike Helden, Liktoren, Reiterstatuen, Rutenbündel und Beile vor Triumphbögen oder Säulen in aufwendig gestalteten Fresken und Mosaiken, umgeben von dunkelrotem Samt, Vergoldungen, reflektierenden Holzintarsien, Marmor und Travertin – all das wirkt im heutigen Italien deplatziert. Anders als die aus dem deutschen öffentlichen Raum verbannten nationalsozialistischen Symbole Hitlers sind die überbordenden »Duftnoten Mussolinis«18 in Italien vielerorts noch vorhanden.19Romanità konzentriert sich auf die faschistische Symbolik und die Materialien in den öffentlichen Institutionen Roms und Norditaliens und lenkt den Blick damit direkt auf Mussolinis Machtzentrum. Den Borghi – dem Außen, dem ländlichen Raum – steht mit der Bilderwelt der faschistischen Interieurs eine Innensicht gegenüber. Der Titel Romanità20 verweist auf die Rückbesinnung auf das antike Rom. Mussolini wollte an die Größe der »Ewigen Stadt« und des römischen Imperiums anknüpfen und instrumentalisierte deren Bedeutung und Ikonografie für seine politischen Interessen: »Rom als Hauptstadt«, betonte der Diktator 1934, »ist nicht nur eine Stadt, sondern eine politische Institution, eine moralische Kategorie.«21 Ziel war es, Rom durch symbolische, institutionelle und städtebauliche Eingriffe zu einer Hauptstadt mit weitreichender Strahlkraft zu machen und so die Antike mithilfe der faschistischen Erneuerungspolitik zu übertreffen.22
Die dafür implementierte Ikonografie ist übermächtig wie die faschistische Ideologie. Die der Antike nachempfundenen Symbole drängen sich förmlich in Johanna Diehls Fotografien hinein und scheinen diese beherrschen zu wollen. In Casa dei Mutilati IV, Rom sind Reiter, Liktoren und eine römische Standarte collageartig mit dem Wort »DUX«23 und dem Mussolini-Bildnis verschränkt. In manchen Aufnahmen ist die Überlagerung der Bildelemente fast grotesk, etwa bei einer römischen Büste, die in der Mitte einer Sitzbank steht (Casa Madre dei Mutilati II, Rom). Diese Büste ist ebenso deplatziert wie in Foro Italico II, Rom das Wandbild der nur mit Leinentüchern bekleideten Männer mit Rutenbündel und Beil an einer eingeschneiten Straße. Einer historisch-verklärenden Lesart dieser Bildsymbolik steuert Johanna Diehl entgegen, indem sie zwar die Inszenierung der Räume nachvollzieht, die faschistische Motivik jedoch nur ausschnitthaft zeigt und somit die Mittel der Verführung unterbricht. So ist in der Fotografie des Palazzo degli Uffici I, Rom nur der linke Rand eines Wandreliefs zu sehen, das vier kämpferische Liktoren darstellt. Der Kern des Reliefs – ein Reiterstandbild als unmissverständliches Herrschermotiv – lässt sich nur als Spiegelung in den Glastüren erahnen. Bei genauerer Betrachtung der Fotografien dieser Serie wird klar, dass die historische Ikonografie mit Zeichen der Gegenwart angereichert ist. In der Casa Littoria in Bergamo verweist eine Glasscheibe vor einem Wandgemälde auf heutige Besucher, die das Wandrelief in gebührendem Abstand betrachten. Im Foro Italico thronen eine römische Skulptur und ihr Schatten heroisch über Stuhlreihen eines vermutlich vor wenigen Jahren neu eingerichteten Sitzungssaals oder erscheinen die Spuren des Leitspruchs »Credere, obbedire, combattere« an den Wänden der ehemaligen Casa del Fascio in Bergamo wie ein nie verstummender Nachhall der Geschichte.
Romanità lässt sich als poetische Reaktion auf Aram Mattiolis Feststellung lesen, dass Italien unter Silvio Berlusconis Regierung ein Land »ohne historisches Gedächtnis«24 geworden ist. Die Fotografien beziehen sich weder auf ein tagesaktuelles Ereignis noch auf einen expliziten Zeitpunkt in der Vergangenheit. Vielmehr driftet die von den Bildern erzählte Zeit in zwei Richtungen: Mit der Aufnahme der faschistischen Gestaltungselemente verweist sie auf die Epoche von Mussolinis Herrschaft. Spuren der jüngeren Vergangenheit schleichen sich durch später hinzugefügte Interieurelemente wie die erwähnte Glasscheibe oder auch durch kleine Abnutzungszeichen in die Bilder ein. Wie Steinsedimente überlagern sich die unterschiedlichen Zeiten und visualisieren damit Aleida Assmanns Konzept eines »Gedächtnis der Orte«. Dieses impliziert nicht nur die Erinnerung an die Orte selbst, sondern auch ein Gedächtnis, das an ihnen lokalisierbar ist.25 In den fotografierten Innenräumen erzählen die edlen Materialien einerseits von Mussolinis Rückbezug auf die Antike, andererseits zeugt der zumeist gepflegte Zustand der Räume von der Wertschätzung, die bis in die Gegenwart fortdauert. In der Kollision mit der Betrachtergegenwart entsteht eine dialektische Spannung, bei der die behutsam eingeflochtenen Verweise die Lust am Dechiffrieren der Bildelemente aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft befeuern.26
Alleanza: Verschränkung von Architektur und Ideologie
Zwischen Architektur und Fotografie besteht eine lange, vielschichtige Beziehung. In der Übertragung von dreidimensionalen Objekten in die Zweidimensionalität von Fotografien und der Wahl der Ausschnitte und Perspektive findet eine Interpretation statt, die die Rezeption des Gezeigten beeinflusst – Fotografien können die Erfahrung eines Gebäudes durch ihre Deutung steuern, vorwegnehmen oder gar verändern.27 Diese Relation spiegelt sich in der Serie Alleanza, bei der die Allianz aus Kirche und Faschismus und ihr manifestes, architektonisches Erbe im Mittelpunkt stehen. Für Mussolini waren die sakralen Gebäude ein wichtiges Element des faschistischen Bauens, sie entstanden in den neu errichteten Planstädten ebenso wie in Rom. Mussolini machte in den ersten Jahren seines Regimes aus reinem Machtkalkül der Kirche Zugeständnisse, die u. a. die Grundlage für die Lateranverträge von 1929 bildeten. Später entwickelte sich die katholische Kirche, der über 98 Prozent der Italiener angehörten, zu einer Stütze des Regimes.28
Die Arbeit Alleanza wird bestimmt von dem klaren, streng verfolgten Konzept einer typologisierenden Betrachtung. Fast katalogartig stellt Johanna Diehl hierfür die formalistisch gestaltete Außenhaut der Kirchen deren atmosphärischer Interieurgestaltung gegenüber. Wie klassische Architekturfotografien zeigen die Außenansichten die Bauwerke als Ganzes. Die Reduktion auf das Schwarz-Weiß betont die modernistisch klaren Linien der Gebäude, die unter Mussolinis Einfluss in und um Rom gebaut wurden. Die Kirchen stehen als Protagonisten in der Bildmitte und werden von intensivem Sonnenlicht ausgeleuchtet, wodurch die reduzierten ovalen und rechteckigen Formen heroisch monumental anmuten. Im Fall der Santa Annunziata in Sabaudia wirkt die Zusammenstellung aus Rechtecken und Zylindern fabrikartig, und in der Ansicht der Capella del Cimetero geht der Abstraktionsgrad so weit, dass sich die Kapelle in einfache geometrische Formen auflöst. Hier scheint sich Urs Stahels zugespitzte Beobachtung zum Verhältnis von Architektur und Fotografie zu bewahrheiten: »Die radikalste Ausdünnung der Baukörper geschieht in der Verbildlichung von Architektur. Der voluminösen Körperlichkeit stehen die ultraflachen Bilder dieser Architekturen gegenüber.29
Die Außenansichten bekommen mit Interieuraufnahmen ein Pendant, in denen das Zusammenspiel von Licht, Form und Farbe in den Vordergrund tritt. Bunt schillerndes Licht in der Fotografie der Kirchenbänke der Cristo Re erzeugt eine übersinnlich-psychedelische Atmosphäre. Die ausgewählten Detailaufnahmen zeigen fast beiläufig die charakteristischen Elemente von Gotteshäusern. In gleichmäßigem Licht formt sich etwa das modernistisch Abstrakte eines Taufbeckens aus. Zwischen die Aufnahmen der Kirchen sind Bilder von Wasserkraftwerken und Entwässerungsanlagen eingestreut, die für die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe und somit für die Landgewinnung stehen. Damit verweist Johanna Diehl einerseits auf die Grundlage für die Errichtung der neuen Städte, andererseits tritt mit der architektonischen Ähnlichkeit zu den Industriegebäuden die ideologische Einbettung der Kirchen hervor. In diesem Nebeneinander von innen und außen, Übersicht, Detail und visuellem Vergleich kondensiert eine ebenso analytische wie emotionale Befragung. Mit dem Auflösen der Grenze zwischen einer objektivierten Hülle und einem subjektiven Gehalt zeigt Johanna Diehl die Architektur nicht nur, sondern durchspürt ihre Strukturen im Sinne Walter Benjamins.30
Ufficio: Leerstellen als Reflexionsräume
Beim Betrachten von Johanna Diehls Arbeiten stellt sich immer wieder die Frage nach dem Dokumentarischen. Hilfreich ist hier ein semiotischer Definitionsvorschlag von Abigail Solomon-Godeau: »Als Teil eines umfassenden Systems visueller Kommunikation, als ein Medium wie Agens der Ideologie, als Lieferantin empirischer Beweise und visueller Wahrheiten lässt sich Dokumentarfotografie als ein Zeichensystem mit einem eigenen Vorrat an visuellen Signifikationscodes analysieren, die seine Rezeptions- und Gebrauchsweisen bestimmen.«31 Johanna Diehl nutzt solche Signifikationscodes, indem sie historische und zeitgenössische Fundstücke kontrastiert und durch Ausschnitte und bewusste Auslassungen ein Vakuum erzeugt, das die Betrachter in ihre Fotografien hineinzieht. Unterstrichen wird dieses Eintauchen in die Bilder durch die reduzierte Bildsprache und die sachlich-beschreibenden Titel, die das Abgebildete lediglich räumlich oder geografisch verorten. Über das Spiel mit Indizien und das Offenlegen von Zeitschichten fordert sie den analytischen Blick der Betrachter heraus, um die Logik der faschistischen Inszenierungsmethoden zu dechiffrieren.32
Auf die Spitze getrieben wird diese künstlerische Haltung in der letzten Serie dieses Buches. In Ufficio blickt Johanna Diehl in die Räume der ehemaligen Casa del Fascio in Predappio, dem Geburtsort Mussolinis. In einem ovalen Saal mit vielen Fenstern und maroder Decke liegt ein Fahnenmast wie ein gefallener überdimensionaler Degen. Im folgenden Bild befindet sich ein zwischen zwei Türen zusammengeschobener Haufen eingestaubter, ausrangierter Computer, der förmlich nach seinem Schicksal zu fragen scheint. In einer dritten Fotografie steht »Ufficio« in roten Lettern an einer Tür. Sie sehen aus wie frisch angebracht – für welche Art von Büro bleibt offen. Die wenigen Dinge funktionieren wie Indizien, die zusammen die Geschichte des Hauses erzählen. Mit Wolfgang Iser kann man die Leere zwischen diesen Indizien als »Leerstellen« deuten. Sie fordern die Betrachter auf, Gesehenes zu kombinieren, damit die Erzählung Gestalt annimmt.33 Gerade an diesen Stellen entfalten Johanna Diehls Arbeiten eine große Kraft, weil sie uns hier Reflexionsräume anbieten.
1 ↩ Diehl, Johanna, Rede zur Meisterschülerprüfung, März 2012, Tapetenwerk, Leipzig.
2 ↩ Ebd. Dieses Interesse findet sich ebenso in Johanna Diehls früheren Arbeiten wie Gefrorene Räume (2006) oder Displace (2008/2009).
3 ↩ Vgl. Aram Mattioli, Architektur und Städtebau in einem totalitären Gesellschaftsprojekt, in: ders. und Gerald Steinacher (Hg.), Für den Faschismus bauen, Zürich 2009, S. 13–44.
4 ↩ Genau dies schlägt Rolf Sachsse als zeitgemäße Form der Architekturfotografie vor: »Es geht nicht mehr darum, die Form eines Gebäudes als Bild zu vermitteln, sondern es geht vor allem darum, mit dem Bild eines Baus eine Mitteilung anderer Art zu machen. Das kann eine Stimmung sein, die man vermitteln möchte; das kann der Anlass zu kritischen Stellungnahmen über Baumaterialien, Baukunst oder Bauformen sein; das kann aber auch der Kontext einer Geschichte sein, die als Reihung vieler Geschichten jene Verdichtung erfährt, die als Historie überlebt.« Vgl. Rolf Sachsse, Wenn Raumbilder zu Bildräumen werden, Berlin 2009, S. 5.
5 ↩ Zum Begriff der »Übersetzung« in Johanna Diehls Werk siehe auch Miriam Paeslack, Übersetzungen, Raum und Gedächtnis, in: Johanna Diehl, Displace, Salzburg 2011, o. P.
6 ↩ Vgl. Harald Bodenschatz, Mussolinia di Sicilia (Grundsteinlegung 1924), in: ders. (Hg.), Städtebau für Mussolini, Berlin 2012, S. 322–324, hier S. 324.
7 ↩ Vgl. Harald Bodenschatz, Mussolinia di Sicilia (Grundsteinlegung 1924), in: ders. (Hg.), Städtebau für Mussolini, Berlin 2012, S. 322–324, hier S. 324.
8 ↩ Vgl. ebd. und Leonardo Sciascia, Mein Sizilien, Berlin 1999, S. 33–38.
9 ↩ Andrea Camilleri, Der Märtyrer im schwarzen Hemd, München 2008.
10 ↩ Vgl. Diehl, 2012.
11 ↩ Joshua Samuels diskutiert ausführlich die Deutung der Borghi als Heterotopien. Vgl. Joshua Samuels, Of other Scapes: Archaeology, Landscape, and Heterotopia in Fascist Sicily, in: Archaeologies, Journal of the World Archaeological Congress, Vol. 6, Nr. 1, April 2010, S. 62–81, hier S. 68.
12 ↩ Joshua Samuels diskutiert ausführlich die Deutung der Borghi als Heterotopien. Vgl. Joshua Samuels, Of other Scapes: Archaeology, Landscape, and Heterotopia in Fascist Sicily, in: Archaeologies, Journal of the World Archaeological Congress, Vol. 6, Nr. 1, April 2010, S. 62–81, hier S. 68.
13 ↩ Diane Yvonne Ghirardo, Città Fascista: Surveillance and Spectacle, in: Journal of Contemporary History, Vol. 31, Nr. 2 (Special Issue: The Aesthetics of Fascism), April 1996, S. 347–372.
14 ↩ Der Vergleich stammt von der Künstlerin selbst. Vgl. Diehl 2012.
15 Grund hierfür ist v. a. der fehlende Bezug der Bauern zu diesen künstlich konstruierten Orten. Die Menschen bevorzugten ein soziales Umfeld und lebten lieber in der Enge der Dörfer als vereinzelt übers Land verstreut. Die Verbreitung des Autos ermöglichte bald tägliche Fahrten zu den Feldern. Großgrundbesitzer und Mittelsmänner untergruben die Bauvorhaben, Planung und Verwaltung waren nicht gut organisiert, manche Orte wurden z. B. auf unfruchtbarem Boden gebaut. Vgl. dazu Samuels 2010, S. 75f.
16 ↩ Harald Bodenschatz, Mussolinia di Sicilia (Grundsteinlegung 1924), in: ders. (Hg.) 2012, S. 322–324, hier S. 324.
17 ↩ Vgl. Swantje Karich, Verloren in Vollkommenheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.1.2012, S. 37.
18 ↩ Harald Bodenschatz, Auf dem Weg zu einem neuen Rom, in: ders. (Hg.), 2012, S. 40–41, hier S. 41.
19 ↩ Zum Spektrum des Umgangs mit den faschistischen Hinterlassenschaften vgl. u. a. Aram Mattioli, Die Resistenza ist tot, es lebe Onkel Mussolini!, in: Mittelweg 36,
20 ↩ Simonetta Fraquelli beschreibt die Auswüchse der Romanità folgendermaßen: »Nach Mussolinis Machtübernahme im Jahre 1922 hielten Anlehnungen an das alte Rom und römische Symbole wie das Parteisymbol der Faszes – ein Rutenbündel mit Beil, das im antiken Rom die Liktoren als Symbol der Amtsgewalt der höchsten Staatsbeamten getragen hatten – und das Motivrepertoire der Adler, römischer Standarten und Wölfinnen nach und nach Einzug in die verschiedensten Bereiche des italienischen Alltagslebens von der Werbung bis hin zu Lehrbüchern, ja sogar auf Kanaldeckeln in Form der Aufschrift SPQR.« Simonetta Fraquelli, Alle Wege führen nach Rom, in: Ades Dawn (Hg.), Kunst und Macht im Europa der Diktatoren, Köln 1998, S. 130–136, hier S. 130.
22 ↩ Vgl. u. a. Wolfgang Schieder, Der Umbau Roms zur Metropole des Faschismus, in: Aram Mattioli und Gerald Steinacher (Hg.), 2009, S. 65–87.
23 ↩ Lateinisch für »Führer«.
24 ↩ Aram Mattioli, »Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis, Paderborn 2010, S. 10.
25 ↩ Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2010, S. 298–300.
26 ↩ Siegfried Kracauer benennt zwei der Fotografie innewohnende Zeiten: die Zeit der Aufnahme und die der Betrachtung. Während die erste in der Vergangenheit liegt, steht die andere für die Gegenwart. Beide Zeiten driften unaufhaltsam auseinander und entfremden sich voneinander. Vgl. Siegfried Kracauer, Die Fotografie [1927], in:
27 ↩ Vgl. Lorenzo Rocha, Architektur bauen: Fotografie und moderne Architektur, in: Daniela Janser, Thomas Seelig und Urs Stahel (Hg.), Concrete, Zürich 2013, S. 40–51, hier S. 40f.
28 ↩ Vgl. Aram Mattioli, E salva l’Italia e Duce. Die katholische Kirche im faschistischen Italien 1922–1938, in: Richard Faber (Hg.), Katholizismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2005, S. 121–142.
29 ↩ Urs Stahel, Vorwort, in: Daniela Janser, Thomas Seelig und Urs Stahel (Hg.), Concrete, 2013, S. 5–7, hier S. 5.
30 ↩ Vgl. Walter Benjamin, Strenge Kunstwissenschaft, im ersten Band Kunstwissenschaftliche Forschungen (erste und zweite Fassung) [1932], in: Hella Tiedemann-Bartels (Hg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 3, Kritiken und Rezensionen, Frankfurt am Main 1972, S. 363–374, hier S. 368.
31 ↩ Abigail Solomon-Godeau, Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2003, S. 53–74, hier S. 55.
32 ↩ »Sie steuert das Seherlebnis durch Auslassungen: ihren eigenen Rückzug […] Und doch sind es die kleinsten Details, die etwas über den Zustand erzählen.« Vgl. Miriam Paeslack, 2011, o. P.
33 ↩ Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München 1976, S. 284.