Kartografieren, ausschöpfen, begegnen, neu betrachten, transformieren
– über die künstlerische Erforschung des Fotografischen in der Gegenwart
»Im 21. Jahrhundert stellt die Fotografie keine Praxis der angestaubten Augenweide dar, sondern die Erforschung dessen, was etwas zu einem Bild macht«, schreibt Daniel Rubinstein über den Status quo der gegenwärtigen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie. Durch die zunehmende digitale Vernetzung und den wachsenden Einfluss von Algorithmen verliert die klassische Repräsentationsfunktion des Mediums an Bedeutung. Stattdessen sieht Rubinstein die Fotografie als ein Mittel zur Erforschung »der Arbeitsweisen, die diese Welt durch Massenproduktion, Komputation, Selbstreplikation und Mustererkennung prägen«.1
In den Arbeiten der beiden Stipendiatinnen des Förderstipendiums 2019/2020 Sara Cwynar und Sophie Thun sowie der zwei Künstlerinnen und dem Künstler der Shortlist Katarína Dubovská, Talisa Lallai und Philipp Goldbach finden Rubinsteins Annahmen einen Widerhall. Sie alle setzen für ihre Befragung des fotografischen Bildes bei den genuinen Charakteristika des Mediums an und untersuchen so die Variabilität des fotografischen Prozesses und der Ausdrucksmittel. Mit ihren Arbeiten verorten sie sich darüber hinaus innerhalb unserer stark von Bildern geprägten Lebenswelt. Die Künstlerinnen und Künstler halten unserer Wahrnehmung und Nutzung des Mediums nicht nur einen Spiegel vor, sondern erweitern zugleich die Grenzen dessen, was als das Fotografische verstanden werden kann.
Kartografieren digitaler Bilderwelten – Sara Cwynar
Die Arbeiten von Sara Cwynar (*1985, Vancouver, Kanada) gleichen auf den ersten Blick einem opulenten Bilderrausch. Sie schichtet eigene und gefundene Bilder und Objekte so neben- und übereinander, dass sich beim Betrachten zunächst eine visuelle Überforderung einstellt. Diese Überforderung ist gewollt – Cwynar geht es genau um die künstlerische Übersetzung des »chaos of living through phones and social media, chaos of information and how hard it is to situate oneself«2. Dieses Gefühl prägt unsere Gegenwart und hat sich mit den Kontakt- und Bewegungseinschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie in den Jahren 2020/21 potenziert. Die Begegnung mit Bildern und der Austausch verlagern sich immer stärker in den digitalen Raum. Dort verschieben sich die Hierarchien von Bildern durch die komplexe Vernetzung von visuellem Material.
In ihrem künstlerischen Werk untersucht Sara Cwynar, wie Ideologien und Geschichte(n) über Bild-Ikonen, Kunstwerke und Gebrauchsgegenstände transportiert werden. Sie fragt, wie Nachrichten und Werbung, Kunst und Populärkultur bestimmte Weltbilder und Machverhältnisse vermitteln, und welche Sehnsüchte und Verhaltensweisen durch Bilder hervorgerufen werden. Sara Cwynars fotografische und filmische Collagen lassen sich bei genauerer Betrachtung als Kartografien der Vernetzung und Transformation von Bildern im digitalen Raum verstehen.
Paradigmatisch für das Spannungsfeld, in dem ihr Werk zu verorten ist, steht ein kleines Bild im rechten oberen Bereich der Collage »Opps (Tools of Power)«, das leicht übersehen werden kann. Es zeigt den Handy-Screenshot einer Instagram-Story, in der die Titelsequenz der vierten Episode von John Bergers Serie »Ways of Seeing« eingefangen ist. Das Bild verbindet das schnelle, flüchtige Konsumieren von Bildern über Social Media mit dem analytischen Betrachten und Hinterfragen, zu dem John Berger in seiner BBC-Serie von 1972 einlädt. Berger appelliert in der vierten Episode der Serie daran, Medienbilder und deren Veröffentlichungskontexte auf ihren ideologischen Gehalt zu untersuchen und unsere eigenen Erfahrungen zu diesen Bildwelten in Beziehung zu setzen. Indem Sara Cwynar das Beziehungsgeflecht der uns umgebenden Bilderwelt kartografiert, verleiht sie Bergers analytischem Ansatz eine visuelle Entsprechung. Sie sucht nach den bewussten und unbewussten Einflüssen von Bildern im Alltag, auf die John Berger hinweist: »We remember or forget these images, but briefly we take them in. And for a moment they stimulate our imagination, either by way of memory or anticipation.«3
In »Opps (Tools of Power)« liegen händisch ausgeschnittene Bilder auf einem rot eingefärbten, stark vergrößerten Millimeterpapier, das die Zusammenstellung strukturiert und einen scheinbaren Maßstab vorgibt. Die Collage wird durch das Abbild einer Schwimmerin gegliedert, die die Metapher des Schwimmens im Strom der Bilder in Erinnerung ruft. Sie taucht in der Collage immer wieder auf, mal beim Kopfsprung, mal beim Schwimmen oder Kraulen, stehend von verschiedenen Seiten und mehrfach im Porträt mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken. Bei der Schwimmerin handelt es sich um ein 3D-Modell der Firma TurboSquid. Ihr Körper und ihr Gesicht wirken trotz – oder gerade aufgrund – der physischen Perfektion seltsam normiert und geglättet. Diese verstörende Künstlichkeit verbindet die Schwimmerin visuell mit zahlreichen Vorher-Nachher-Bildern von Frauengesichtern, bei denen unklar bleibt, ob die Ursache der Veränderung ein professionelles Make-up oder die Bildbearbeitung ist. In der Collage haben des Weiteren Repräsentationen von diversen Frauenrollen einen Platz erhalten, so die Frau als Schwangere und Mutter, als Partnerin, Geliebte, Unabhängige und stilbildende Ikone. Unter ihnen befindet sich u. a. die Autorin Virginia Wolf, fotografiert von Gisèle Freund. Beide waren über den von ihnen gewählten Beruf unabhängige, emanzipierte Frauen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu sehen ist außerdem das Auge Lee Millers, aufgenommen von Man Ray – das Künstlerpaar steht für die Avantgarde im Paris der 1920er und 1930er Jahre. Für ein von den Massenmedien und Sozialen Medien geprägtes Körperbewusstsein des 21. Jahrhundert stehen wiederum die Stil-Ikone und Influencerin Kim Kardashian sowie Winnie Harlow, ein erfolgreiches US-amerikanisches Model mit Hautpigmentstörung, hier als Marilyn Monroe posierend. Darüber hinaus setzt Sara Cwynar in der Collage zwei weitere, gegensätzlich ausgerichtete Bezugspunkte: Auf innere Zustände verweisen Bilder von menschlichen Eingeweiden. Demgegenüber sind Fotografien von Donald Trump, mal allein, mal mit seinen Geschwistern, ein Anti-Trump-Graffiti sowie eine Schlagzeile der »New York Times« auf die Politik der USA und somit nach Außen gerichtet.
Zwischen diese visuellen Versatzstücke platziert Sara Cwynar größere und kleinere Selbstporträts. Stellvertretend für uns setzt sie sich dem Bilderstrom aus und schlüpft in diverse Rollen. Auf einigen Bildern trägt sie ein T-Shirt mit dem Antlitz des linken Demokraten Bernie Sanders und der Aufschrift »Rage against the machine«. Ein anderes Mal ist sie mit einem papiernem Schürzenkleid und Rührschüssel versehen und stilisiert sich so als 1950er-Jahre-Anziehpüppchen. In fast allen Bildern steht Sara Cwynar mit weit aufgerissenem Mund da, als müsse sie ihre Position als junge Künstlerin und Frau in einer polarisierenden Bilderwelt lautstark schreiend für sich erkämpfen.
In dem Film »Scroll 1« geraten Sara Cwynars Bilder in einem endlos erscheinenden Loop. Der Titel verweist auf unser alltägliches Durchqueren des digitalen Raums auf den Bildschirmen der Computer und Mobiltelefone. Eine minimale physische Bewegung ist ausreichend, um in die Tiefen des World Wide Web vorzudringen, von Bildern umspült zu werden und sich in deren hierarchielosem Nebeneinander zu verlieren. Sara Cywnar übersetzt dies in ihrem Atelier in eine Versuchsanordnung. Auf übereinander positionierte Plexiglasscheiben legt sie Bilder und Alltagsobjekte und filmt sie von oben. Die Kamera bewegt sie in unterschiedlichen Geschwindigkeiten horizontal vor und zurück und zoomt in ihre Versuchsanordnung hinein und aus ihr heraus. Über die Kamerabewegung verschieben sich die räumlichen und inhaltlichen Konstellationen der Bilder und Objekte ungleichmäßig in verschiedene Richtungen – als Sinnbild für die unstete Aufmerksamkeit im digitalen Raum. Je nach Perspektive gehen die versammelten Gegenstände zeitweise visuelle Verbindungen ein, ergänzen, verdecken und kontrastieren sich.
Inhaltlich befragt Sara Cwynar mit »Scroll 1« die sich wandelnden Vorstellungen und Wertschätzungen von Körpern und Dingen. Versammelt hat sie dazu Frauendarstellungen von vorwiegend männlichen Künstlern wie Leonardo da Vinci, René Magritte, Man Ray, Salvador Dalí, Paul Cezanne, Constantin Brancusi und Pablo Picasso. Ergänzt werden diese durch gefundene und private Fotografien, Alltagsgegenstände und aus der Mode gekommene Designobjekte. Auf das Vergehen von Zeit verweisen Uhren, zerbrochene Tassen ebenso wie das Nebeneinander eines Festnetztelefons mit Wählscheibe und eines Werbefotos für brandneue Smartphones. Ein Bild von Donald Trump verortet die Arbeit zudem in der politischen Gegenwart der späten 2010er Jahre.
An manchen Stellen bricht diese Versuchsanordnung auf und es öffnen sich neue, scheinbar endlose Welten hinter den Bildern. Die Kameraperspektive springt von fotografischen Bildern zu filmischen Aufnahmen des jeweils gleichen Motivs: Beim Heranzoomen auf ein Studiofoto wird plötzlich das Posieren des Models als bewegte Filmsequenz sichtbar. An einer anderen Stelle probiert die Künstlerin selbst typische Gesichtsausdrücke der Modebranche aus. Von einer Fotografie des Kolosseums wechselt das Bild zu einer Filmaufnahme mit Passanten vor Ort; in einer anderen Filmsequenz hantiert eine Arbeiterin mit Strumpfhosen in einer Fabrik. Eine weitere Form von Unterbrechung findet statt, wenn die Künstlerin in ihren Versuchsaufbau eingreift, wenn sie auf einzelne Bilder zeigt oder diese zurechtrückt. Oder wenn sie unter den Plexiglasscheiben liegend direkt in die Kamera schaut und sich durch Zwinkern als lebendige Person zu erkennen gibt. Die verschiedenen Realitäten der stillen und bewegten Bilder treten an diesen Stellen in einen vielschichtigen Dialog.
Neben diesen zwei Werken enthält Sara Cwynars Zusammenstellung für die Kunststiftung DZ BANK fotografische Collagen, die als Gegenbewegungen zu der Fülle an visuellen Eindrücken zu verstehen sind. Der Bilderstrom scheint sich in den stilllebenartigen Aufnahmen »Red Rose«, »Hands (photographed by Graphics Studio, Milwaukee)« und »Tabacco Silk 1« kurz zu beruhigen. In »Fawn (Protection from Predators)« begegnet uns ein Rehkitz, dass sich durch die Farbe und Struktur seines Fells im Wald tarnen kann. Es steht für den Rückzug in die Natur und den Versuch, dort den überbordenden Bildern und Nachrichten zu entkommen. Dass dies nicht gelingt, vermitteln fragmentarische Bildelemente, die bis in die Natur vordringen. In zwei weiteren Arbeiten – »Sahara from Ssense with Swimmers from TurboSquid« und »Sahara from Ssense.com (As Young as You Feel)« – wird das Bildmodell schließlich selbstständig. Das Model des kanadischen Luxus-Onlinehändlers Ssense probiert inmitten einer skulpturalen Installation aus Bildfragmenten verschiedene Rollenmuster wie Kleider an und bewegt sich dabei souverän zwischen den ideologischen Frauendarstellungen.
Die Konstruktion ihrer Bilder setzt Sara Cwynar in ihren Arbeiten als produktive Strategie ein. So glättet sie die Materialität ihrer analogen und digitalen Werkzeuge nicht, sondern stellt sie eigens heraus. Die Schnittkanten der Abbildungen sind ein ebenso wichtiger Bestandteil wie die Navigationstools der digitalen Medien oder das Verwackeln einer Kameraaufnahme. Einzelne Bildelemente wiederholt sie in unterschiedlichen Konstellationen und Größen immer wieder. Papierne Studiohintergründe knittern, sind teilweise zerrissen. Die verwendeten Plexiglasscheiben reflektieren Licht und haben feine Kratzer. Unsichtbares Hilfsmaterial aus dem Studio wie Stative, Lampen, Klammern, Schnüre und Klebebänder integriert Sara Cwynar in ihre Installationen. Mit Hilfe des Programms Photoshop verschiebt sie schließlich subtil Farben und Bildebenen, um die analog angelegten Tromp-l’œil-Effekte und den Dialog der Bildelemente zu verstärken. Mit solchen visuellen Bruchlinien destabilisiert sie unsere Wahrnehmung und stellt das Betrachten selbst als aktive Tätigkeit heraus: »I am very interested in trying to trick the viewer, in making them question what they think they are seeing, what happens in the brain, when the mind can’t figure out what the eye is seeing and the viewer is trying to situate herself in the space.«4
Fotografische Handlungsräume ausschöpfen – Sophie Thun
Mit der Arbeit von Sophie Thun (* 1985, Frankfurt am Main, Deutschland) geraten Aufnahme- und Abbildungsmöglichkeiten des Mediums Fotografie in den Blick. Während Sara Cwynar einen Blick nach Außen, auf die uns aktuell umgebende Bilderwelt richtet, sich Bilder aneignet und sich zu diesen in Beziehung setzt, interessiert sich Sophie Thun für Eingriffe in den fotografischen Prozess und bringt dafür ihren eigenen Körper ins Spiel: »Ich lege die in die Bildproduktion eingeschriebenen Orte, Mechanismen und Performances offen und untersuche die Konstruktion der Identität, indem ich die Konstruktion des Bildes untersuche.«5 Sie erzeugt spannungsreiche, teilweise irritierende Bezüge zwischen Körper und Raum und deren fotografischem Abbild. Damit fordert sie ihr Medium heraus und reflektiert zugleich ihre Rolle als Künstlerin.
Sophie Thuns neue Arbeit »All things in my apartment smaller than 8 x 10 inches« begann mit einer Entscheidung von persönlicher und technischer Tragweite. Ausnahmslos alle Gegenstände, die sich in ihrer Wiener Privatwohnung befinden und die auf ein 8 x 10 inch bzw. 20,3 x 25,4 cm großes Großformatnegativ passen, sollten Teil des Werkes werden. Das bedeutet einerseits einen radikalen Einblick in die Privatsphäre der Künstlerin, andererseits stellen sich vielschichtige Fragen an das Medium. Sie knüpft damit zugleich an die langen Traditionen der Selbstdarstellung und Stillleben-Fotografie an und fügt diesen Traditionen eine eigene Variante hinzu, die zunächst visuell anachronistisch erscheint und sich dennoch in der Gegenwart verorten lässt.
In vielen ihrer bisherigen Werke betreibt Sophie Thun ein ernsthaftes visuelles Spiel in den Handlungsräumen der Fotografie. Ihr Körper und die in den fotografischen Prozess involvierten Räume sind Teil ihres visuellen Experiments. »Räume« meint in diesem Fall nicht nur den Ort der Aufnahme – Thun fotografiert u. a. in Museums- und Galerieräumen sowie im öffentlichen Raum und in Hotelzimmern. Zu dem Aktionsradius der Künstlerin gehört auch der Ort der Ausbelichtung, die Dunkelkammer. Sophie Thun entwickelt ihre Bilder ausschließlich analog und kann dadurch den gesamten Prozess der Bildproduktion eigenständig durchführen, kontrollieren und in diesen intervenieren. In ihren Arbeiten »Double Release« und »After Hours« tritt sie etwa in beiden Räumen in das Bild ein – vor die Kamera bei der Aufnahme und vor den Vergrößerer bei der Belichtung des Fotopapiers – und erzeugt so mehrfach verschachtelte Bilder. In ihrer neuen Arbeit verlegt sie die Bildproduktion komplett in die Dunkelkammer und wird so nur über ihre Hände sichtbar.
Mit ihrer Arbeit »All things in my apartment smaller than 8 x 10 inches« richtet sie den Blick auf die sie umgebenden Gegenstände, also auf das, was ihren Alltag prägt, und erstellt auf diese Weise ein indirektes Selbstporträt. Im Gespräch erzählt die Künstlerin, dass dies ihre bislang persönlichste Arbeit sei, obwohl sie in vorherigen Bildern vollständig als Person und teilweise nackt zu sehen war. Jeder ihrer Gegenstände wird auf einem Abzug wiedergegeben, alle erhalten gleich viel Bildraum, unabhängig von Größe und Bedeutung. Vor den Aufnahmen entschied sie, dass jedes Objekt im Verhältnis eins zu eins abgebildet werden soll. Damit verbunden ist die Frage, was »eins zu eins« in der fotografischen Abbildung von dreidimensionalen Gegenständen bedeutet und wie dies fotografisch zu realisieren ist. Sophie Thun entschied sich für die Kontaktkopie von einem Negativ-Fotogramm der Gegenstände als Technik. Es ist eine Entscheidung für eine mehrstufige Bildherstellung, bei der die Objekte zunächst auf ein Negativ gelegt und von oben mithilfe eines Vergrößerers belichtet und anschließend entwickelt werden. In einem zweiten Schritt kehrt Sophie Thun das Negativ schließlich über eine Kontaktkopie in ein Positiv um und fixiert dabei die Negativblätter mit den Händen, so dass auf dem Fotopapier weiße Schatten ihrer Hände zu sehen sind. Wortwörtlich hat die Künstlerin die Repräsentation ihrer Gegenstände somit »in der Hand« und markiert ihre Rolle als Bildproduzentin.
Rund 500 Gegenstände sind in »All things in my apartment smaller then 8 x 10 inches« abgebildet. Kategorisieren lassen sich diese nach ihrem räumlichen Bezug: Dinge, die sich am Körper der Künstlerin befinden (Brille, Ringe, Haargummis), Dinge aus ihren Taschen (Telefon, Schlüssel, Geldbörse), Dinge an verschiedenen Orten in ihrer Wohnung (Bad, Küchenschrank, Regal, Schublade) und Dinge ohne konkreten Ort (Fahrradlicht, USB-Stick, Stifte). Befragen lassen sich die Gegenstände auch im Hinblick auf die Persönlichkeit der Künstlerin. Erkennbar wird unter anderem, dass sie gerne Romane liest und dies in drei Sprachen (Polnisch, Englisch und Deutsch). Kleine Tierfiguren zeugen von Aufenthalten in Afrika, Privatfotos von ihrer Familie und ein Selbstporträt der Renaissance-Malerin Sofonisba Anguissola von ihrem Interesse an historischen Selbstdarstellungen von Frauen. Insgesamt wird deutlich, dass sich in Sophie Thuns Privaträumen vergleichbar wenige Gegenstände bis zur Größe 8 x 10 inches befinden, wodurch sich wiederum Rückschlüsse auf ihre Lebensumstände und Wohnung ziehen lassen.
An diese Beobachtungen anknüpfend lässt sich fragen, ob dieses Selbstporträt als eine zeitgenössische Form der fotografischen Dokumentation der persönlichen Lebensumstände einer jungen Künstlerin zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstanden werden kann. In der Befragung von »All things in my apartment smaller than 8 x 10 inches« aus der Perspektive der Fotografie treten darüber hinaus die Eigenheiten des fotografischen Abbildcharakters hervor. Sophie Thuns Aufnahmen erinnern an das, was Georges Didi-Huberman zum Abdruck als einer »Form der Kritik an der klassischen Repräsentation« schreibt. Anders als die Tendenz der Abstraktion, »sich radikal vom dargestellten Gegenstand, vom ›Realen‹ abzuwenden, wendet der Abdruck sich ihm radikal zu«6. Die fotogrammatische Abbildung hinterlässt auf dem Fotopapier keine physische Spur. Mit Kratzern in den Negativen oder Fingerabdrücken schreibt sich eher der Herstellungsprozess als die Gegenstände selbst in das Bild ein. Wie bei einem Abdruck findet bei einem Fotogramm jedoch ein direkter Kontakt zwischen Gegenstand und Bildträger statt, der in einer solchen absoluten Nähe über die Kameraoptik unmöglich ist. Didi-Huberman beschreibt eine solche Zuwendung als »so radikal, daß er [der Abdruck] in der Berührung jede optische ›angemessene Distanz‹, jede Konvention oder Evidenz der Sichtbarkeit, der Erkennbarkeit, der Lesbarkeit subvertiert«7.
»All things in my apartment smaller than 8 x 10 inches« setzt auch die Arbeitsmittel der Künstlerin ins Bild. Innerhalb der Serie befinden sich Gegenstände, die Sophie Thun für ihre Arbeiten verwendet, wie die Kameras (Großformat, Mittelformat und Kleinbild), weiteres fotografisches Equipment (Fernauslöser, Objektiv, Belichtungsmesser, Negativkassette, Kleinbildfilm) und Labormaterial (Fadenzähler, Filmwechseltasche). Die Eigenheiten der fotogrammatischen Abbildung zeigen sich zudem in den unterschiedlichen Reaktionen des Negativs sowie des Fotopapiers auf die Gegenstände. Gläser erscheinen aufgrund ihrer Transparenz im Bild fast fotorealistisch. Lichtundurchlässige Dinge sehen aus wie tiefschwarze Schatten. Anhand ihrer Umrisse lässt sich nur erahnen, um was es sich genau handeln könnte. Das Erkennen der Objekte hängt vor allem davon ab, ob uns das visuelle Antlitz eines Gegenstands vertraut ist. Bei anderen Gegenständen findet eine visuelle Verschiebung statt, etwa wenn Farben der Buchcover durch die Reduktion auf Schwarz-Weiß in abweichenden Helligkeitswerten wiedergegeben werden oder, wie im Fall von Postkarten oder Fotografien, sich Vorder- und Rückseite überlagern. Manche Gegenstände widersetzen sich einer klaren Abbildung dadurch, dass sie während der Belichtung wegrollen oder vibrieren. In Aufnahmen von leuchtenden Gegenständen, wie etwa der des Mobiltelefons Sophie Thuns oder ihres Fahrradlichts, wird wiederum die Aufzeichnung gestört und es zeigt sich die besondere Beziehung zwischen Fotografie und Licht. Das Eigenlicht dieser Gegenstände und das Licht des Vergrößerers gehen hier eine spannungsreiche Liaison ein.
Das prozesshafte Entstehen der Aufnahmen ruft die Frage hervor, welche Zeitlichkeit den Bildern Sophie Thuns innewohnt. Einzeln betrachtet wirken viele Gegenstände zeitlos. Manche verweisen auf die Vergangenheit, das sind insbesondere Fotografien, Trauer- oder Postkarten, andere verorten die Arbeit explizit in der Gegenwart von 2020. Postalische Neujahrsgrüße benennen etwa das Jahr der Entstehung von »All things in my apartment smaller than 8 x 10 inches« und kleine Karten von C/O Berlin laden zu drei parallelen Ausstellungen im Frühjahr des gleichen Jahres ein – eine davon zu »Extension« von Sophie Thun. Ein Mund-Nasen-Schutz aus Stoff erinnert an die Pandemie, die Anfang 2020 Europa erreichte, und an die damit verbundenen Veränderungen unseres Lebensalltags.
Die Autorin Orit Gat erweitert die Vorstellung von Zeitlichkeit in Bezug auf die Arbeiten Sophie Thuns wie folgt: »Wo fangen Fotografien an? Fangen Thuns Bilder dort an, wo sie entstehen? Wo sie gezeigt werden? Mir gefällt der Gedanke, dass sie ihren Anfang im Körper der Künstlerin nehmen und im Verhältnis, das sie zwischen diesem und dem Raum skizziert.«8 Der Akt des Fotografierens wird diesem Ansatz zufolge zum vielschichtigen Bildprozess, der der Vorstellung vom Einfangen eines entscheidenden Augenblicks entgegensteht. In Bezug auf die hier gezeigte Arbeit wäre der Anfang der Bilder vermutlich in der Wohnung der Künstlerin zu verorten. Aufgenommen wurden die Gegenstände, die sich zu diesem Zeitpunkt der Bildproduktion von Ende April bis Anfang Juni 2020 in Thuns Wohnung befanden. Auf Einladung der Wiener Secession errichtete Thun ihren Arbeitsraum im Museum und verlegte ihre Dunkelkammerarbeit in den Ausstellungsraum. Aufgrund der Pandemie war das Museum geschlossen. Um die Bildproduktion dennoch sichtbar zu machen, installierte Thun eine permanent laufende Webcam. Zeit und Ort der Bildproduktion und einer ersten ausschnitthaften Präsentation fielen zusammen und schrieben sich in die Werkgenese ein. Ihre finale Präsentationsform findet die Arbeit »All things in my apartment smaller than 8 x 10 inches« zum Zeitpunkt ihrer Ausstellung in der Kunststiftung DZ BANK, bei der im Nebeneinander der Einzelbilder die Werkgruppe erstmals als Ganzes sichtbar wird.
Imaginierten Landschaften begegnen – Talisa Lallai
Die Arbeit »Autosole« nimmt ihren Ausgang bei der Künstlerin selbst. Wie Sophie Thun verfolgt auch Talisa Lallai (* 1989, Frankfurt am Main, Deutschland) eine persönliche Perspektive auf ihren Bildgegenstand. Dieser führt bei Talisa Lallai weg von dem direkten Umfeld und ist stattdessen auf die Auseinandersetzung mit einer Kulturlandschaft gerichtet, mit der sie familiär eng verbunden ist. Die Künstlerin ist als Tochter süditalienischer Eltern in Deutschland geboren und mit einer romantisch-idyllischen Vorstellung von Italien aufgewachsen. Ein ambivalentes Heimatgefühl sowie die beständige verklärte Sehnsucht nach dem imaginären Süden prägten Talisa Lallai so sehr, dass sie sich bereits in mehreren Arbeiten mit Vorstellungen und Klischeebildern des Südens beschäftigt hat. Viele verbinden mit diesem sogenannten Süden ein entspanntes Lebensgefühl, gutes Essen und sonnige Tage. Unwillkürlich entstehen in unseren Köpfen Bilder von idyllischen Landschaften und pittoresker Architektur. In einem solchen träumerischen Schwelgen vergessen wir am liebsten die andere Seite des geografischen Südens, die wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Krisen und die »Gastarbeiter« und Geflüchteten. Mit sprechenden Titeln wie »Time is the Longest Distance«, »Terra Incognita«, »Disappear Here« und »Post-Tropical« gehen Talisa Lallais vorherige Projekte der Frage nach, was diese Sehnsucht nach der gedanklichen Flucht ausmacht.
Talisa Lallai interessiert, warum ausgerechnet der Süden diese magische Anziehungskraft auf viele ausübt und welche Vorstellungen und Bilder er wachruft. Auf Reisen begibt sie sich auf die Suche nach Zeichen der Identität und Identifikation – bisher arbeitete sie auf Kreta, Zypern, Mallorca und in Italien. Sie fotografiert und filmt selbst und recherchiert nach Material anderer Bildautorinnen und -autoren. Für ihr jüngstes Projekt »Autosole« reiste die Künstlerin im August 2019 von Mailand nach Kalabrien. Mit dieser Bewegung vom Norden in den Süden Italiens vollzog sie nicht nur die Urlaubsfahrten ihrer Kindheit nach und in umgekehrter Richtung die Migrationsroute ihrer Eltern. Es ist auch die Richtung von Goethes italienischer Reise im 18. Jahrhundert und von vielen folgenden des europäischen Bildungsbürgertums auf der »Grand Tour«. Unzählige Bilder und Reiseberichte befeuern die Vorstellung von Italien als Sehnsuchtsort. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichte insbesondere die Verbreitung des Mediums Fotografie die Konservierung des flüchtigen touristischen Blicks und etablierte einen Kanon des Sehenswerten.9 Im 20. Jahrhundert sind es Fotografien von Luigi Ghirri und Guido Guidi, die mit ihren nur scheinbar nebensächlichen Beobachtungen den Geist Italiens einfangen. Wie könnte eine gegenwärtige künstlerische Antwort auf die zahlreichen Italienbilder aussehen? In welchem Verhältnis stehen stereotype Erwartungshaltungen zu der real erfahrbaren Landschaft? Und in welchem die Beobachtungen der Künstlerin zu öffentlich distribuierten Bildern und Amateuraufnahmen?
Motivisch konzentriert sich Talisa Lallai auf die idealisierten Visionen des Landes: auf historische Gartenanlagen und botanische Gärten, Palazzi und Kirchen, auf die in Literatur und Künsten vermerkten Orte der »Grand Tour« entlang der Autostrada del Sole und der Autostrada del Meditérraneo. Sie verfolgt, wie sich das Land, die Orte und das Meer in Richtung Süden verändern und hält präzise Zufallsbeobachtungen von unterwegs in ihren Bildern fest. Im Nebeneinander der von Talisa Lallai besuchten Orte zeigen sich Varianten der utopischen Landschaftsgestaltung: »Venere« entstand in der Gartenanlage der Villa Adriana nordöstlich von Rom. Die Anlage wurde zwischen 118 und 134 n. Chr. gebaut und enthält griechische, römische und ägyptische Elemente, die der römische Kaiser Hadrian während seiner Reisen gesehen hatte. Der »Netturno«-Brunnen aus dem 16. Jahrhundert wurde mit seinen mehr als 500 Wasserspielen im berühmten Renaissancegarten der Villa d’Este bei Tivoli ein oft kopiertes Modell unter den europäischen Gärten des Barock und des Manierismus. Der Diana-Tempel befindet sich in der Parkanlage der Villa Durazzo Pallavicini bei Genua. Gestaltet wurde dieser Park Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Bühnenbildner des städtischen Theaters Michele Canzio im Stil der englischen Romantik mit theaterähnlicher Gliederung in einen Prolog und drei Akte. Die angelegte Strukturierung des Blicks der Besucherinnen und Besucher führt Talisa Lallai in ihren Aufnahmen weiter, indem sie in ihren Fotografien die architektonischen Rahmungen und gestalteten Naturelemente aufgreift. Zwei Super-8-Filme mit den poetischen Titeln »Ungeheure Zypressen« und »Auf durchsichtigen Wassern«, entnommen aus den Reiseberichten von Johann Wolfgang von Goethe bzw. André Gide, ergänzen das Bildensemble um bewegte Aufnahmen. Hier treibt Talisa Lallai auf die Spitze, was sich in ihren Fotografien andeutet – nicht die zentrale Sehenswürdigkeit oder die spektakuläre Aufnahmeperspektive stehen in ihren Werken im Mittelpunkt, sondern vielmehr die irreal-verträumte Stimmung, die an diesen Orten herrscht.
Im gleichmäßigen Licht und ohne Menschen wirken die Fotografien und Filme von Talisa Lallai zeitlos und entziehen sich so einer klassischen Dokumentation einer Landschaft. Mit »Autosole« dokumentiert sie eher Formen des gerichteten Blicks auf eine Kulturlandschaft und erweitert diese um gefundene, private und öffentliche Bilder, die am gleichen Ort entstanden sind. Die Postkarten und Briefmarken transportieren die Bildauffassungen einer touristischen Perspektive – und nebenbei auch eine historische Aufnahme- und Drucktechnik fotografischer Bilder vom Anfang des 20. Jahrhunderts. In der Werkzusammenstellung für die Kunststiftung DZ Bank führen schließlich zwei Fotografien von Talisa Lallai – die eines von Pflanzen eingerahmten Meereshorizonts und die der gemalten Italienkarte im Sala di Mappamondo im Palazzo Farnese – unseren Blick ins Weite und dienen uns beim Betrachten als offene Projektionsfläche.
Bilderspeicher neu betrachten – Philipp Goldbach
Mit den Arbeiten von Philipp Goldbach (* 1978, Köln, Deutschland) und Katarína Dubovská ändert sich die Perspektive auf das Fotografische. Beide bewegen sich weg von der Befragung des Motivs hin zu einer Auseinandersetzung mit der fotografischen Körperlichkeit und dem, was über dessen Materialität transportiert wird. Philipp Goldbach ist ein Sammler, der eine produktive Medienarchäologie obsolet gewordener Bilderspeicher betreibt. In seiner Arbeit tritt er im übertragenen Sinne vor dem Motiv einen Schritt zurück, nimmt das Trägermaterial in Augenschein und stellt durch eine Verschiebung der Wahrnehmung dessen Charakteristik heraus. Die ersten Speicher, die er vor ihrer unwiederbringlichen Entsorgung bewahrte, waren 2013 die 200.000 Dias des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln und ein paar Jahre später die 70.000 Dias des Instituts für Archäologische Wissenschaften der Ruhr-Universität Bochum. Aus diesen entwickelte der Künstler die Werkgruppe »Loseless Compression«. Mit dem Titel benennt er eine verlustfreie Verdichtung und provoziert damit die Frage, was genau Philipp Goldbachs Installationsform voranging und nun komprimiert wurde.
Nachdem Philipp Goldbach die Dias des Kunsthistorischen Instituts bekommen hatte, kippte er die nach Bildautoren wohlsortierte Sammlung bei der ersten Präsentation auf den Boden eines Ausstellungsraums und nannte diese Werkform »Sturm/Iconoclasm«. Wie kleine Eisschollen lagen die Dias und damit rund 2000 Jahre Kunstgeschichte gleichmäßig verstreut im Raum. Die einzelnen Bildermotive und Beschriftungen waren noch sichtbar, ein geordneter Zugriff jedoch unmöglich geworden. Was seit Mitte des 20. Jahrhunderts der Anschauung von abwesenden Forschungsgegenständen diente, war nun seines wissenschaftlichen Gebrauchs entledigt. In einer neuen, der finalen Präsentationsform liegen die Dias sorgfältig gestapelt über- und nebeneinander. In der Kunststiftung DZ BANK ist es die Sammlung des Instituts für Archäologische Wissenschaft der Universität Bochum, in der sich Reproduktionen von Bauwerken der ganzen Welt befinden. Die Motive verschwinden in der nun hermetisch gewordenen Präsentationsform. Als wandfüllende Installation pendelt die Arbeit in ihrer Erscheinung zwischen einer riesigen Festplatte, weißem Rauschen und abstrakter Kunst.
Die Arbeit »Batch« besteht aus dicht aufeinandergelegten 35-mm-Negativstreifen in Schwarz-Weiß, die für analoge Kleinbildkameras verwendet werden. In einem der 19 x 19 cm großen Blöcke befinden sich 1400 Filmstreifen à fünf Aufnahmen, insgesamt 7000 Fotografien, die von Gewindestangen zusammengehalten werden. In der komprimierten Form als Block treten die für uns nebensächlichen Eigenschaften der Negative hervor. Für einen reibungslosen technischen Verlauf sind sie jedoch entscheidend: Die Negativperforierung ermöglicht einen gleichmäßigen Filmtransport in der Kamera. Die Labor-Kerben positionieren das Negativ während der Ausbelichtung und dem Schnitt in der jeweiligen Vorrichtung. Die Bildstege, Bildnummerierungen und -markierungen dienen zur Unterscheidung der Einzelbilder auf den gräulich-transparenten Polyester- oder Acetatnegativen.
Philipp Goldbachs Arbeiten erschöpfen sich weder in einem nostalgischen Abgesang noch in einer Ästhetisierung des Materials. Die Installationen sind vielmehr Meditationen über sich verändernde fotografische Techniken.10 Diese Wahrnehmungsverschiebung weg vom Motiv hin zu den Bilderspeichern gelingt, weil diese ihrer Funktion des Zeigens von Bildern enthoben sind. Zugleich entstehen in Philipp Goldbachs Installationen neue visuelle Zusammenhänge. In »Loseless Compression« und »Batch« sind die Einzelbilder noch verfügbar und könnten »ausgelesen« werden. Sie sind aber ähnlich unsichtbar abgelegt wie Daten in Computerservern. Sichtbar wird hingegen, wie viel Raum der Speicher in Anspruch nimmt, und auch die Umstände des Managements, Handlings und der Strukturierung der Bildermengen werden vorstellbar. Einerseits lässt sich erahnen, wie begrenzt die Möglichkeiten zur Sortierung des analogen Materials im Vergleich zu den Vernetzungsmöglichkeiten digitaler Bilder sind. Andererseits ist durch die physische Präsenz der Bilderspeicher das visuelle Erfassen des gesamten Materials möglich. Wir können uns zu diesem noch ins Verhältnis setzen, während im virtuellen Raum kein räumlicher und körperlicher Bezug mehr denkbar ist.
Mit seinen »Mikrogrammen« geht Philipp Goldbach einen umgekehrten Weg. Er entledigt die Inhalte von Texten aus Philosophie und Fototheorie sowie von Reiseberichten aus dem 19. und 20. Jahrhundert der Buchseiten als Träger und vereint sie auf jeweils einem Bogen Papier. Nachdem er auf Grundlage der Textlänge die Größe des Textfelds berechnet hat, schreibt er über mehrere Wochen die vollständigen Texte Wort für Wort und Zeile für Zeile mit Bleistift ab. Die einzelnen Buchstaben sind nur wenige Millimeter groß und in gleichmäßiger Dichte niedergeschrieben. Mit dieser Arbeit stellt sich Philipp Goldbach in die lange Tradition der reflexiven Beschäftigung mit Schrift: der als Mikrografie bezeichneten Schriftmalerei des 18. Jahrhunderts eines Johann Michael Püchler d. J., der im Verborgenen entstandenen und posthum als »Mikrogramme« bezeichneten Schreibexperimente Robert Walsers, der écriture automatique der Surrealisten um André Breton der 1920er Jahre bis hin zu konzeptuellen Ansätzen der 1970er Jahre eines Robert Morris oder Allen Ruppersberg. Das Abschreiben der Texte ist bei Philipp Goldbach eine Aneignung von Texten, die einer visuellen Befragung gleicht: Was passiert mit einem Text, wenn er als Bild erscheint? Wenn er nur punktuell lesbar, dafür aber visuell erfahrbar wird? Wenn sich im Schriftbild Schwankungen abzeichnen, die die Zeit, die Anstrengung und den Gemütszustand des Künstlers beim Schreiben widerspiegeln?
Die ausgewählten Texte gehen jeweils eine vielschichtige Symbiose mit ihrer neuen Form ein. In Frankfurt ist das Mikrogramm von Vilém Flussers Werk »Ins Universum der technischen Bilder« zu sehen. In seinem visionären Text von 1985 nimmt Flusser nicht nur vieles von der heutigen Entwicklung der Fotografie vorweg. Seine Beobachtungen zum Ersatz von Texten durch Bilder ähneln auch einer Rezeptionserfahrung, die wir vor Philipp Goldbachs »Mikrogrammen« machen können: »Wenn Texte von Bildern verdrängt werden, dann erleben, erkennen und werten wir die Welt und uns selbst anders: nicht mehr eindimensional, linear, prozessual, historisch, sondern zweidimensional, als Fläche, als Kontext, als Szene. Und wir handeln auch anders als vorher: nicht mehr dramatisch, sondern in Beziehungsfelder eingebettet.«11
Fotografisches Material transformieren – Katarína Dubovská
Fotografisches Material ist für Katarína Dubovská (* 1989, Ružomberok, Slowakei) ein Forschungsgegenstand. Die Künstlerin begreift es nicht als feste Einheit, sondern geht an ihr Material mit der Ernsthaftigkeit eines wissenschaftlichen Experiments heran: »Ich extrahiere bis alles erodiert. Fragmentiere, schichte, siebe und füge zusammen. Ich knete, zerreiße, filtere, püriere, vermenge, drücke, quirle, destilliere, bis alles mutiert, transformiert, zirkuliert und fluktiert.«12 Ihre künstlerische Arbeit ist für Katarína Dubovská wie für Sara Cwynar eine Strategie zur Bewältigung der Bildermassen und visuellen Eindrücke, die täglich auf uns einströmen. Im Gegensatz zu Sara Cwynar gibt Katarína Dubovská dem Bilderstrom jedoch eine neue Beschaffenheit, indem sie das Material radikal ihrer Verarbeitung unterwirft. Ihre künstlerische Reflexion setzt nicht bei der Aufnahme-, Ausgabe- oder Präsentationsform an. Sie widmet sich in ihrem Werk dem Potenzial des Fotografischen zur Transformation, indem sie analoge und digitale Bildprozesse verschränkt und selbst entwickelte hybride Arbeitsformen realisiert. Katarína Dubovská kehrt Entwicklungsprozesse um und löst sich dabei von technologischen und sozialen Ordnungen. Ihre Arbeiten zeigt sie in einer Art Laborsituation, die sie als Künstlerin und Fotografin geschaffen hat, in der sie auch als »Archäologin, Soziologin, Molekularbiologin, Philosophin und Bildhauerin«13 agiert.
Für die Werkgruppe »Intertwined Conditions« arbeitet die Künstlerin mit ihrem eigenen Fotoarchiv und angesammeltem visuellem Referenzmaterial. Die Bilder legt sie in ein Wasserbad und löst so die Druckertinten aus dem Trägermaterial heraus. Anschließend trennt sie beides über eine mechanische Filterung voneinander. In diesem Verarbeitungsprozess verlieren die Bildmotive ihren Halt, werden flüssig, verändern, vermischen sich und nehmen neue, temporäre Zustände an. Die ausgelöste Tinte füllt die Künstlerin in transparente 10-Liter-Wasserbeutel und nennt sie »Extracs«. Aus den herausgefilterten festen Bildanteilen modelliert Katarína Dubovská »Cluster«, Objekte, die aussehen wie große Steine aus Pappmaschee. In diesen befinden sich neben diversen fotografischen Trägermaterialien auch Elemente der Bildproduktion, wie etwa ein zerkleinerter Tintenstrahldrucker, der während der Werkgenese von »Intertwined Conditions« kaputtging. Einen anderen Teil des extrahierten Trägermaterials bringt sie in die Form von großen Tafelbildern, die übersät sind mit Abdrücken ihrer Hände als Zeichen der physischen Bearbeitung. Im Ausstellungsraum treten die Elemente der Installation in ein Beziehungsgeflecht, das um filmische Fragmente aus dem Mikrokosmos der Fotografie und ihrer Verarbeitung erweitert wird.
Die Fluidität der fotografischen Bilder, die damit verbundene Befreiung aus ihrer Abhängigkeit vom Träger ebenso wie deren leichte Appropriierbarkeit und Verteilung beschreibt André Gunthert als das Charakteristikum der digitalen Fotografie, das diese revolutionär sein lässt.14 Dass die genuinen Charakteristika des Digitalen eine Entsprechung in Katarína Dubovskás amorphen analogen Formen finden, erscheint erstmal paradox. An dieser Stelle gerät unser gegenwärtiges Verständnis von Analog und Digital ins Wanken. Statt jedoch eine neue Definition oder ein stabiles Unterscheidungskriterium des Analogen oder Digitalen vorzuschlagen, erweitert Katarína Dubovská mit ihrer Installation den Fragenkatalog an das Medium Fotografie im 21. Jahrhundert: Lässt sich aus den Farben der extrahierten Flüssigkeiten etwas über unsere Bilderwelt ablesen? Was sagt die Masse des Trägermaterials über dessen Anteil an der Herstellung von Bedeutung aus? Unterlaufen Bildträger die Bedeutung von Bildern? Was verbirgt sich im Mikrokosmos der Bildstrukturen? Und in welchem Verhältnis stehen Fotografie und Raum zueinander, wenn sich die Grenzen des Einzelbildes transzendieren?
Diese Fragen an »Intertwined Conditions« und im übertragenen Sinne an die Fotografie bleiben gezwungenermaßen eine Momentaufnahme. Zum einen werden sich die »Extracts« und »Cluster« vermutlich über ihre Lebensdauer verändern. Zum anderen variiert in jeder Ausstellung die Konstellation der einzelnen Elemente zueinander. Manche geben den Anstoß für neue Arbeiten oder migrieren als Ganzes in diese und verändern dabei ihre Form. Mit ihrem Werk bewegt sich Katarína Dubovská weit weg von einer gängigen Verwendung und Reflexion des Mediums. Indem sie die geläufigen Formate des Fotografischen hinter sich lässt, gelingt es ihr, die Vorstellung des Fotografischen nach vorn, ins Offene zu führen und eine Spekulation darüber zu entzünden, welche Erscheinungsformen das Fotografische in der Zukunft annehmen könnte.
1 ↩ Daniel Rubinstein: »Was ist Fotografie im 21. Jahrhundert?«. In: ders., Fotografie nach der Philosophie, Leipzig 2020, S. 142–151, hier S. 150f.
2 ↩ Sara Cwynar im Gespräch mit der Autorin am 24. September 2020.
3 ↩ John Berger: Ways of Seeing. Episode 4, https://www.you- tube.com/watch?v=5jTUebm73IY (letzter Zugriff: 27.10.2020).
4 ↩ Sara Cwynar im E-Mail-Austausch mit der Autorin am 17. November 2020.
5 ↩ Sophie Thun im Gespräch mit der Autorin am 27. Oktober 2020.
6 ↩ Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 191.
7 ↩ Ebd.
8 ↩ Orit Gat: »Körper und Bild«. In: Camera Austria 142 (2018), S. 45–56, hier S. 47.
9 ↩ Vgl. Ulrich Pohlmann: »Zwischen Bildungserlebnis und süßem Nichtstun: Die Grand Tour in der Malerei, Fotografie und Literatur des 19. Jahrhunderts«. In: Gerhard Finckh u. a. (Hg.), Bella Italia. Fotografien und Gemälde 1815–1900, Heidel- berg, Berlin 2012, S. 14–25, hier S. 16.
10 ↩ Isabella Smith: »Philipp Goldbach’s Meditations on Chan- ging Technology«, https://www.artsy.net/article/artsy-philipp- goldbach-s-meditations-on-changing-technology (letzter Zugriff: 26.07.2021).
11 ↩ Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, 6. Aufl., Göttingen 1999, S. 9.
12 ↩ Katarína Dubovská in der unveröffentlichten Projekt- beschreibung zur Ausstellung der Arbeit in der Galerie ASPN in Leipzig, 2020.
13 ↩ Katarína Dubovská: »Artist Statement«. In: Katarína Dubovská 2017–2020, digitales Portfolio, 2020.
14 ↩ Vgl. André Gunthert: »Einführung: Das fluide Bild«. In: ders., Das geteilte Bild. Essays zur digitalen Fotografie, Konstanz 2019, S. 13–21, hier S. 16f.