Christin Müller
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Laudatio für Hannah Darabi

zur Verleihung des Bernd-und-Hilla-Becher-Förderpreises am 19.5.2023

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Keller, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Hannah,

Als ich mich 2020 das erste Mal mit der Arbeit von Hannah Darabi beschäftigte, war mir der Iran, um das ihr Werk inhaltlich kreist, fremd. Es war ein Land, von dem ich nur Schablonenhafte Vorstellungen hatte. Zu diesem Zeitpunkt recherchierte ich für einen Artikel über neue Bildstrategien in der Dokumentarfotografie und interessierte mich hauptsächlich für Hannah Darabis Arbeitsweise. Sie hatte kurz zuvor ihr Buch Enghelab Street. A Revolution Through Books, Iran 1979-1983 veröffentlicht und mich beschäftigte, wie sie darin mit historischen Fotobüchern arbeitet.

Es gibt inzwischen zahlreiche künstlerisch-dokumentarische Projekte, bei denen gefundenes Bildmaterial zum Einsatz kommt. Hannah Darabi verwebt jedoch fremde und eigene Bilder auf eine besondere Weise. In ihrem Projekt lässt sie historische Bücher einerseits als Ganzes für sich stehen. Andererseits verdichtet sie visuelle Extrakte aus diesen mit eigenen Fotografien und Recherchen, um eine Counter Memory, also eine andere Erinnerung oder Gegenerzählung mit kollektiven und persönlichen Dokumenten zu initiieren. Die iranische Revolution von 1979 konserviert sie so nicht als historischen Moment mit wenigen ikonischen Bildern. Vielmehr fächert sie die Ereignisse vielstimmig und Zeitenübergreifend auf.

Hannah Darabi suchte für dieses Projekt duzende Fotobücher aus dem Iran, die während einer kurzen Zeit der freien Meinungsäußerung erschienen waren. Parallel zu den Freiheitsbestrebungen blühte die Dokumentarfotografie im Iran auf. Unzählige Fotobücher, politische Fanzines und Kulturmagazine wurden schnell und in großer Auflage gedruckt. Die Ereignisse, Ideen und Emotionen der Freiheitsbewegung und auch die von Regierungsnahen Herausgebern konnten so unmittelbar über Bücher zirkulieren. Heute sind die Bücher größtenteils in Vergessenheit geraten. Hannah Darabi holte sie wieder ans Licht. Im ersten Teil ihres Projekts Enghelab Street sortiert sie diese Publikationen chronologisch, versieht sie mit Erläuterungen zum historischen Kontext und zum Einsatz von Fotografie. Sie stellt ihnen weitere politischen Bücher zur Seite und führt Interviews mit Wissenschaftlern, Verlegern, Fotografen und Aktivisten.

Im letzten Teil des Projekts, der mit Reconstructions überschrieben ist, verwebt sie die Fotografien aus den historischen Büchern miteinander und fügt Postkarten, Bilder aus Film und Fernsehen sowie eigene Fotografien aus dem gegenwärtigen Teheran und privat aufgenommene Porträts hinzu. Zwischen ähnlichen und gegensätzlichen Stimmen, öffentlichen und privaten Erzählungen ebenso wie zwischen verschiedenen Zuständen von Orten entspinnt sich einen Dialog. Das stehen verbaute leere Stadtlandschaften gegenüber von demonstrierenden Menschen, politische Losungen neben Reklame. Wohlstand spiegelt Armut. Krieg kontrastiert Frieden und so weiter.  

Im letzten Herbst kam mir der Iran näher. Mein Blick auf das Projekt Enghelab Street sowie die Wahl des Untertitels „eine Revolution durch Bücher“ veränderte sich,  aufgrund des Todes von Jina Masha Amini und den darauf folgenden massiven Protesten. Plötzlich schwappten Fotografien und Videos aus dem Iran in unseren Alltag und fluteten die Kanäle von Nachrichtensendungen und sozialen Medien. Anders als bisher ging es nicht um den Atomdeal mit den USA, der mir aus der Distanz immer recht abstrakt erschien. Es ging um die brutale Ausübung von Gewalt gegenüber einer jungen Frau, deren Namen und Gesicht wir jetzt kennen, sowie um den drauf folgenden mutigen Kampf der Iraner für mehr Freiheitsrechte – auf der Straße und in den digitalen Kanälen. Die Proteste halten an. Die Situation im Land hat sich bisher kaum verändert. In unseren Medien hat dennoch längst ein Decrescendo der Bilder aus dem Iran eingesetzt. Es ist naheliegend ausgerechnet jetzt die Bedeutung der Arbeiten von Hannah Darabi zu betonen. Ein Projekt wie Enghelab Street ist ein hilfreicher Spiegel zu den Nachrichten, weil es das rastlose visuelle Mitschreiben der Ereignisse um 1979 in Erinnerung ruft und sich mit langem Atem in die Politik von Bildern vertieft.

Unabhängig von der Aktualität ermöglicht Enghelab Street auch eine Erweiterung der Perspektive auf globale Fragestellungen. In einer Präsentation ihres Buches stellte Hannah Darabi folgende Fragen: Was ist die Rolle der Fotografie bei einer Revolution? Kann ein Bild überhaupt ein Ereignis wie eine Revolution repräsentieren? Sie meinte damit nicht nur die iranische Revolution, sondern schlug vor, Vergleiche zur arabischen Revolution zu ziehen und zu untersuchen, wie Bilder  zu einem solchen Ereignis beitragen können und wann das unmöglich ist.
 
Zu ihrem Anliegen, die Perspektive zu erweitern, passt, dass Hannah Darabi kürzlich ihre Sammlung iranischer Fotobücher an die Bibliothèque Kandinsky im Centre Pompidou übergeben hat. Mit dieser Übergabe trägt die Künstlerin nicht nur zur dauerhaften Sicherung der visuellen Zeugnisse der iranischen Revolution bei. Möglich wird damit eine vielgestaltige Forschung: Medienspezifisch könnten mit diesen Büchern etwa dokumentarische Bildstrategien, die Dramaturgie von Fotobüchern sowie Bedingungen des Fotografierens und Verlegens befragt werden. Mit den Büchern lassen sich ausserdem Vergleiche zu Freiheitsbewegungen in weiteren Ländern ziehen, deren Entwicklung vom westlicher Einflussnahme geprägt wurde und sicher vieles mehr.

Ein globales Phänomen ist auch das Leben in der Diaspora. Diesem widmet sich Hannah Darabi in ihrem jüngsten Projekt Soleil of the Persian Square mit Fokus auf die iranische Diaspora in Los Angeles und Orange County. Sie geht deren visueller Identität nach, untersucht, wie sich die Spuren der Diaspora in der kalifornischen Stadtlandschaft abzeichnen und welche Auswüchse die Vermischung kultureller Prägungen haben. Sie versammelt in diesem Projekt wie in Enghelab Street verschiedene Zeugnisse zu einem Thema, aber setzt diese nun anders zusammen.

Im Vorwort des zu Soleil of the Persian Square erschienen Buchs treffen persönliche Erlebnisse auf öffentliche Perspektiven. Hannah Darabi erzählt, wie ihre Famlie 1999 wie immer zum iranischen Neujahrsfest eine Fernsehshow mit iranischer Popmusik aus Los Angeles anschaut. Die Familie wünscht sich alles Gute für das neue Jahr und hofft, dass das iranische Regime bald vorbei ist. Wir erfahren, dass Popmusik bis 1979 vor allem im Film eine wichtige Rolle gespielt hat und nach der Revolution verboten wurde. Eine beispiellose Emigrationswelle begann – viele der iranischen Musiker zogen in den Großraum von Los Angeles. Die größte iranische Diaspora erfand für sich den Ort Tehrangles und die persische Popmusik aus Kalifornien wurde zur geliebten und gehassten Projektionsfläche für die Sehnsüchte in der innern und äußeren Emigration.

Hannah Darabis Fotografien zeigen die breiten Straßenzüge Kaliforniens, filmisch wirkende Porträts und Kassetten persischer Popmusik. Zwischen den Bildern tun sich Bedeutungslücken auf. Wir erfahren etwa nicht, wer die fotografierten Personen sind, welches Leben sich hinter den Fassaden der persischen Geschäfte verbirgt. Ob etwa die Kunden eines persischen Fotogeschäfts am Persian Square anschliessend das französische Bristot Soleil nebenan aufsuchen? Ob die von Hannah Darabi porträtierte Frau der iranischen Sängern Heyedeh nur ähnlich sieht oder ob sie es tatsächlich ist? Und wie sich die Stadtansichten zu den Liedtexten verhalten: In einem Lied träumt etwa eine Sängerin von einem Geliebten, der nach langem Warten erscheint und davon, dass sie nun endlich gemeinsam in ihrem Traumschloss sitzen. Gegenübergestellt hat Hannah Darabi eine Fotografie von einem persischen All-You-Can-Eat-Restaurant, das sich neben einem Donuts-Cafe und einem Smoke Shop befindet.

Anzeigen aus den Gelben Seiten und Stills aus Musikvideos ergänzen Hannah Darabis Erzählung der iranischen Diaspora. Sie zeigen kulturelle Nostalgie und die Vermischung kultureller Identitäten. Während in den Anzeigen alles mögliche von Schönheitsoperationen, Reisen, Sicherheitsservices und bis zu Särgen persischsprachiger Anbieter beworben wird, enthalten die vermeintlich seichten, meist grellbunten Musikvideos auch politische Botschaften zur Befreiung des Iran. All diese Elemente lässt Hannah Darabi rhythmisiert, aber eher unvermittelt aufeinandertreffen. Dadurch entspinnt sich eine fiktive Narration – und damit etwas, was dem klassischen Verständnis von dokumentarischem Arbeiten eigentlich widerspricht.

Auch Soleil of the Persian Square wird um das Format des Interviews erweitert – hier ist es eines zwischen Hannah Darabi und Farzaneh Hemmast, der als erster zu iranischer Popmusik in Los Angeles geforscht hat. Wie die Interviews in Enghelab Street ist es ein Hinweis darauf, im Gespräch zu bleiben, statt die eigenen Ansichten hermetisch in eigenen Texten und Bildern auszuformulieren.

Diese beiden knapp vorgestellten Projekte enthalten durch ihre Verdichtung beziehungsweise durch die Bedeutungslücken offene Enden, mit denen Hannah Darabi unseren Blick und unsere Neugier herausfordert. Ihr Umgang mit den Fotografien und Dokumenten, mit Geschichte und Gegenwart zeigt, dass diese nicht starr sind. Sie bleiben in Bewegung, wenn wir diese immer wieder neu anschauen, der Resonanz nachgehen, die sie bei uns erzeugen – und wenn wir das Gesehene, wie Hannah Darabi es vorschlägt, mutig befragen.