Luise Schröder. Reflexionsräume im Jetzt
Wie ist das Vergangene in der Gegenwart anwesend? Kann diese Anwesenheit so gestaltet sein, dass sich die Betrachtung des Vergangenen erneuert oder sogar verändert?
Luise Schröder beschäftigt sich mit Geschichts- und Erinnerungskonstruktionen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen die Fragen, inwiefern (in-)offizielles Gedenken durch politische, gesellschaftliche und mediale Entwicklungen beeinflusst und konstruiert wird und welche Rolle fotografische Bilder dabei spielen. Die Künstlerin bezeichnet sich selbst als Bildanalytikerin und Bildproduzentin. Sie arbeitet mit gefundenen Bildern und Texten, kombiniert das fremde Material mit eigenen Aufnahmen und überführt es in eine neue Form. Über dieses performative Verarbeiten eröffnet uns Luise Schröder einen Reflexionsraum, der irritierend, manchmal amüsant oder herausfordernd ist. Sie umkreist in ihren Werken gesellschaftspolitische Themen und lädt uns und dazu ein, uns zu diesen zu positionieren.
In ihrem Essayfilm Der gerissene Horizont erzählt Luise Schröder die Geschichte der Luft- und Raumfahrt aus der Perspektive von sechs Frauen. Die Arbeit beginnt mit einer Schilderung aus dem Jahr 1819. Darin beschreibt eine Ich-Erzählerin, wie frei sie sich beim Fliegen fühlt und ihr Blick auf die Erde allmächtig zu sein scheint. Beim 67. Aufstieg ihres Ballons über dem Tivoli-Garten in Paris erfassen Flammen ihr Fluggerät, umschlingen sie. Sie fällt wie Ikarus vom Himmel und benennt diesen Moment als erwartbaren Zufall. Eine zweite erzählt von dem Augenblick, als eine sowjetische Rakete auf dem Mond landet und sie dieses erste Auftreffen eines von Menschenhand geschaffenen Objekts auf dem Mond 1959 als einzige Augenzeugin beobachten konnte. Sie resümiert ihre Beobachtungen mit einer gewissen Enttäuschung: „Mir war eigenartig zumute, als ich den Fleck beobachtete, viel eher hatte ich ein Aufblitzen erwartet. An einen fotografischen Nachweis konnte ich leider nicht denken, da unsere Instrumente dafür nicht geeignet waren.“ Dennoch hofft die Erzählerin, dass an der Stelle des Einschlags einmal ein Denkmal errichtet wird. Schliesslich berichtet eine Dritte von Valentina Tereshkovas Umkreisen der Erde 1963, um dann über die eigene Mondlandung zu reflektieren, die sie 2024 mit zwei weiteren Astronautinnen unternahm. Sie waren die ersten Frauen auf dem Mond und erfüllten während ihres Aufenthalts auf dem Himmelskörper die Hoffnungen der zweiten Erzählerin. Die drei schossen ein Foto dieses historischen Augenblicks und errichteten ein Denkmal mit der Inschrift „Unseren Schwestern“. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweben sich hier ganz selbstverständlich, genauso wie sich Realität und Fiktion vermischen.
Die Beobachtungen und Gedanken der Frauen stehen im Kontrast zu den Erfolgsgeschichten von männlichen Raumfahrern und Wissenschaftlern. Die Lücke, die sich zwischen den Narrativen auftut – oder in Anspielung auf den Titel, den Riss in der Erzählung –, vergrößert Luise Schröder auf der Bildebene. Collageartig dicht zusammengestellt zeugen Grafiken, Fotografien und Texte von den Errungenschaften der Vergangenheit. Da posieren Männer mit Raketen, sind in weissen Kitteln mit ihren Messinstrumenten oder repräsentativ in ihren Fluggeräten zu sehen. Ausschnitte aus Büchern illustrieren die Fortschreibung der Wissenschaftsgeschichte. Für die Musealisierung der Luftfahrtgeschichte stehen Aufnahmen aus dem Technikmuseum „Hugo Junkers“ in Dessau. Dazu kombiniert die Künstlerin Bilder aus dem Inneren eines Windkanals. In solchen Laboratorien werden aerodynamische und aeroakustische Eigenschaften von Objekten untersucht. Sie sind aber auch Spiegel von ökonomischen, politischen und militärischen Interessen. Luise Schröders Windkanalaufnahmen entstanden im Institut für transdisziplinäre Forschung der Zürcher Hochschule der Künste. Zu sehen ist, wie die Strömungslinien von Händen gelenkt werden, nicht zielgerichtet, eher tastend, intuitiv.
Die Lücke, zwischen der Fülle an Eindrücken der Frauen und Errungenschaften der Männer, schließt Luise Schröder nicht. Sie gibt uns am Ende des Videos jedoch einen Hinweis: „Die Macht des Zusammenhangs ist eine Frage der Perspektive“.
Die installative Intervention Erinnerung ist ein Gespenst entspricht einer Gegenbewegung zu dem verdichteten Bild- und Textmaterial in Der gerissene Horizont. Die Arbeit besteht aus einem Satz, der identisch mit dem Titel ist und je nach Ausstellungsort auf unterschiedlichen Displays platziert wird. Der Satz ist so kurz und schnell erfassbar wie ein Werbeslogan. In der bedeutungsvollen Reduktion funktioniert die Arbeit jedoch wie ein Vakuum, das mit unseren Gedanken und Bildern gefüllt werden will. Das passiert auf der inhaltlichen Ebene – Welche Erinnerung? Wessen Erinnerung? Die eigene oder kollektive? Welches Gespenst? – genauso wie auf der gestalterischen – Ist es ein Zitat? Auf was verweist die Schriftart? Was bedeutet die Lücke zwischen „ein“ und „Gespenst“? – oder auch ganz allgemein – Welchem Kontext ist dieser Satz entnommen? Diese Fragen liessen sich endlos fortführen und mit diversen Spekulationen beantworten.
Erinnerung ist ein Gespenst steht in einer spannungsreichen Beziehung zum Medium Fotografie. Der Satz ruft zum einen die These Siegfried Kracauers in Erinnerung, dass Fotografie ein Gespenst sei, da sie Konstellationen abbildet, die so nicht mehr existieren und auch anders denkbar wären. Es lässt sich zum anderen eine gedankliche Verbindung zur Mode der Geisterfotografie ziehen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden vermeintlich übernatürliche Wesen in Fotografien eingefangen, die für das menschliche Auge unsichtbar sind. An diese Zuschreibungen anknüpfend erscheint der Begriff der Erinnerung durchlässig und es ließe sich fragen, wie formbar und fiktiv Erinnerungen sind.
Wie in diesen beiden Arbeiten ist die kritische Betrachtung von Geschichte, das Freilegen von Bedeutungsschichten und mutige Neukombinieren charakteristisch für das künstlerische Werk von Luise Schröder. Sie bringt auf diese Weise unsere Vorstellung von Geschichte in ein produktives Schwingen.