Rezension: Une histoire mondiale des femmes photographes
»Pour moi, la vision d’un photographe homme ne sera jamais la seule façon de voir le monde.« Dieses Zitat von Elisabeth Hase (1905 – 1991) umreißt das Anliegen des beeindruckenden Kompendiums von Luce Lebart und Marie Robert. Une histoire mondiale des femmes photographes gibt Einblicke in Leben und Werk von 300 Fotografinnen. Statt einen spezifischen weiblichen Blick herauszustellen oder vorhandene Nachschlagewerke zu dekonstruieren, verstehen die Herausgeberinnen ihr Buch als notwendige Ergänzung. Es zeigt, wie Frauen seit der Erfindung der Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung des Mediums beigetragen haben – auf allen fünf Kontinenten, mit ihren Werken genauso wie mit ihrem Engagement als Dozentinnen, Sammlerinnen, Kuratorinnen, Theoretikerinnen und Verlegerinnen.
Das zweijährige Forschungsprojekt für dieses Buch begann 2018. Im gleichen Jahr publizierte die französische Tageszeitung Libération einen offenen Brief an den damaligen Direktor der Rencontres de la photographie, Sam Stourdzé, in dem das massive Missverhältnis zwischen Fotografinnen und Fotografen in den Festivalausstellungen in Arles kritisiert wurde. 2019 hatte sich der Anteil an Fotografinnen zwar erhöht, die darüber hinaus geforderte Öffnung hin zu nicht-westlichen Fotograf*innen war kaum erfolgt (siehe Camera Austria International Nr. 147). Mit Unterstützung des Festivals in Arles erschien nun Ende 2020 diese Weltgeschichte der Fotografinnen ausschließlich auf Französisch bei Les éditions textuel und war in der ersten Auflage Anfang 2021 bereits vergriffen (eine zweite Auflage wurde direkt nachgedruckt).
Mit ihrem Buch sehen sich die Herausgeberinnen in der Tradition des Reframing der Fotogeschichte, das seit vierzig Jahren erfolgt und dem sie auf dem Cover ihres Buchs mit einer gedrehten Prägung eines Bildrahmens eine visuelle Entsprechung geben. Darüber hinaus zollt dort Pushpamala N.s auf die Betrachter*innen zielende Frau der kämpferischen Ernsthaftigkeit des Buchprojekts Tribut. Um der langen Geschichte der Diskreditierung von weiblichen und nichtwestlichen Bildautorinnen umfassend entgegenzutreten, luden Lebart und Robert 164 Autorinnen aus der ganzen Welt dazu ein, Beiträge über bekannte, verkannte und vergessene Fotografinnen zu verfassen. Die Texte sind mit etwa 400 Wörtern relativ kurz, jeweils mit einem Bild und teilweise mit einem Zitat der Fotografin illustriert. Besonders ist die inhaltliche und sprachliche Gestaltung der Texte. Sie reihen nicht in lexikalischer Manier Fakten aneinander, sondern beschreiben essayistisch die Interessen der Fotografinnen, ihre Lebensumstände und die Herausforderungen ihrer Arbeit sowie deren Rezeption. Punktuell bleiben Fragen zum Werk offen, wie etwa bei Olga Spolarics (1895/96 – 1969): »L’exagération […] n’était-elle pas elle un moyen de refouler les peurs que suscitait la sexualité feminine?« Manchmal wird es lyrisch: Mit »Ses images sont comme des notes de musique qui nous effleurant par leur delicatesse« werden die Bilder von Sarah Moon (geb. 1941) charakterisiert.
Geordnet sind die Beiträge nach dem Geburtsjahr der Fotografinnen und durch Bildstrecken in fünf Abschnitte à jeweils rund zwei bis drei Jahrzehnte eingeteilt. Durch diese Chronologie lässt sich nicht nur die Entwicklung des Mediums nachvollziehen. Es wird auch deutlich, wie sich die Werke und Arbeitsbedingungen aufgrund sich wandelnder gesellschaftlicher Voraussetzungen verändern und welche Themen immer wieder auftauchen. Als Teaser für die durchweg lesenswerten Beiträge seien hier beispielhaft ein paar, beim Querlesen entdeckte Details aufgeführt: Das Buch beginnt mit Anna Atkins (1799 –1871), die mit Photographs of British Algae. Cyanotype Impressions das erste Fotobuch veröffentlicht hat. Die älteste Fotografie in Lebarts und Roberts Buch entstand 1843 und stammt von Constance Talbot (1811 – 1880), deren Beitrag zur Entwicklung der Fotografie wie im Falle vieler weiterer Frauen hinter dem Werk der Männer verschwand. Als Assistentin ihres Ehemanns William Henry Fox Talbot, Erfinder des Positiv-Negativ-Verfahrens, war sie vermutlich die erste Frau, die überhaupt eine Fotografie produzierte. Die chinesische Kaiserin Cixi (1835 – 1908), im Buch die erste nicht-westliche Fotografin, war sich der Wirkung dieses neuen Bildmediums als Mittel für eine visuelle, kulturelle und politische Emanzipation bewusst. Zwar hat sie nicht selbst auf den Auslöser gedrückt, aber die Bilder komponiert und bei deren Entwicklung assistiert. Die erste bekannte Fotografin in Neuseeland war Elizabeth Pulman (1836 – 1900), in Argentinien Josefina Oliver (1875 – 1956) und in Westafrika die 1935 geborene Ghanaerin Felicia Ansah Abban.
Mary Dillwyn (1816 – 1906) interessierte sich für die wechselnden Lichtverhältnisse der Jahreszeiten und hat vermutlich als erste um 1853 den Bau eines Schneemanns fotografiert. Eliza Withington (1825 – 1877) publizierte bereits 1876 ihren Essay »How a Woman Makes Landscape Photographs«. Eine frühe Globetrotterin mit Kamera war Isabella Bird (1831 – 1904). Alice Schalek (1874 – 1956) war eine der ersten Kriegsreporterinnen Österreichs, die die Front im Ersten Weltkrieg dokumentierte, während Maria Chroussachi (1899 – 1972) als Krankenschwester im Zweiten Weltkrieg das Geschehen hinter den griechischen Frontlinien aufnahm und Tsuneko Sasamoto (geb. 1914) als erste japanische Fotojournalistin die Kriegsereignisse in Japan fotografierte. Naciye Suman (1881 – 1973), erste Fotografin im Osmanischen Reich, führte ab 1919 in Konstantinopel ein Fotostudio für Frauen und schloss damit gewinnbringend eine Lücke, da muslimische Frauen nicht vor Männern posieren durften. Thérèse Bonney (1894 – 1978) war eine Vermittlerin und Multiplikatorin zwischen den USA und Frankreich und hatte 1923/24 die Idee, eine Fotoagentur für die amerikanische Presse zu gründen, während Lucia Moholy (1894 – 1989) früh das Potenzial des Mikrofilms für die Wissenschaft und Bildung erkannte. 1946, nach der Gründung der UNESCO, war sie für die kulturgeschichtlichen Archive zuständig und somit eine Pionierin im Bereich der Digitalisierung. 1971 druckte Artforum ein Bild von Diane Arbus (1923 –1971) auf dem Cover und weitere fünf ihrer Fotografien im Innenteil als ersten Beitrag über ein fotografisches Werk in der Geschichte der Kunstzeitschrift. Wie für viele Frauen war die Kamera für Letizia Battaglia (geb. 1935) ein Türöffner, sie dokumentierte mehr als dreißig Jahre lang die Aktivitäten der sizilianischen Mafia und gründete 2017 ein internationales Zentrum für Fotografie in Palermo. Die Amerikanerin Joan Lyons (geb. 1937) war eine der ersten, die Kopierer für die Produktion ihres künstlerischen Werks einsetzte, während die indische Fotografin Gauri Gill (geb. 1970) die Idee der Kollaboration neu definierte – über Formen langjähriger dialogischer Zusammenarbeit mit ihren Modellen oder die Co-Kreation von Arbeiten gemeinsam mit Künstler*innen aus dem ländlichen Raum.
Den Schlusspunkt für die Auswahl setzen Lebart und Robert auf das Ende des 20. Jahrhunderts. Mit der Digitalisierung und Globalisierung beginnt für sie eine neue Landschaft (»nouveau paysage«) – die Aufgabe eines neuen Forschungsprojekts wäre. Die jüngste hier genannte Fotografin ist Newsha Tavakolian (geb. 1981), die sich mit 16 Jahren der journalistischen Fotografie zuwandte und aktiv wurde, als kurzzeitig staatliche Reformen die Veröffentlichung von modernen Zeitschriften im Iran erlaubten. Das neueste im Buch veröffentlichte Foto entstand 2019, aufgenommen von der Südafrikanerin Zanele Muholi (geb. 1972), die sich als visuelle Aktivistin bezeichnet und sich mit ihrem Werk für marginalisierte Frauen und die LGBTQI-Community in Südafrika einsetzt.
Une histoire mondiale des femmes photographes legt den Fokus explizit auf die Akteurinnen: Neben den Einzelbeiträgen beschreiben zwei Essays der Herausgeberinnen vielschichtig den Forschungsstand zu den Fotografinnen. Eine Literaturliste sowie Kurzbiografien der Autorinnen laden zum Weiterverfolgen der Akteurinnen ein. Anders als in anderen Nachschlagewerken wird auf zusätzliche Informationen wie Begriffsklärungen oder Ausstellungs- und Publikationslisten verzichtet, was gut verschmerzbar ist. Schade ist, dass die Quellen der Zitate und die Angaben zu Größe und Technik der abgebildeten Fotografien fehlen. Insgesamt schließt das Buch eine große Lücke in der Fotogeschichtsschreibung, ist in der inhaltlichen und formalen Gestaltung ansprechend und bereitet auch noch Freude beim Lesen. Die Übersetzung in weitere Sprachen wäre sehr wünschenswert.