Christin Müller
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Rollenbilder in der Fotografie

– auf der Spur nach dem, was Lehrmaterialien nebenbei vermitteln.

Bei ihrer Recherche in dem FOTOHOF archiv stieß Sophia Kesting auf eine Diasammlung, die schon länger niemand mehr für beachtenswert gehalten hatte. Die Künstlerin war eingeladen, sich mit dem Archiv zu beschäftigen und in Reaktion auf dieses eine neue Arbeit zu entwickeln. Bei einem Rundgang mit Kurt Kaindl, der Gründungsmitglied und bis heute Teil des Teams ist, durch die Räume des FOTOHOF fielen ihr zahlreiche Diakästen auf. Auf Nachfrage berichtete ihr Kurt Kaindl von der Nutzung der Dias für seinen Unterricht und öffnete Sophia Kesting so einen Blick in die Randgebiete des FOTOHOF archiv. Die Beschäftigung mit diesen mehr oder weniger vergessenen Dias löste bei Sophia Kesting ein grundlegendes und medienreflexives Nachdenken über Fotografie aus.

Seit der Gründung des FOTOHOF 1981 bietet das Team Kurse über das Medium Fotografie an. In seinen Fotokursen nutzte Kurt Kaindl in den 1980er und 1990er Jahren eine Diasammlung mit rund 5000 Dias und mehrere Ringordnern, auf die Sophia Kesting nun zugreift. Dieses Lehrmaterial zur Erläuterung der technischen und gestalterischen Funktionsweisen des Mediums stammt aus verschiedenen Quellen: Ein Teil kam von Fotofirmen, wie den von Kodak in den 1980ern auf Bestellung versandten Lehrbehelf für Fotografie mit Dias und Erklärungen sowie die Nikon Fotoschule von 1981. Viele weitere Bilder hatte er aus Magazinen, Zeitungen und Künstler*innenbüchern reproduziert und Fotografien aus seinem eigenen Werk hinzugefügt.

Im Gegensatz zu Fotografien, die als Kunstwerke eingestuft werden oder die dokumentarischen Charakter haben, erfolgt bei solchen Lehrbildern eine besondere Form der Alterung. Sie gelangen in der Regel gar nicht oder nicht gleichwertig in Sammlungskataloge. Irgendwann werden sie obsolet, weil die verwendeten Kameras längst überholt sind, weil die Aufnahme motivisch oder das Vermittlungsmedium technisch veraltet ist. Ähnlich wie bei Bildern aus der Wissenschaft führt die Einstufung als unzeitgemäß meist dazu, dass die Lehrbilder entsorgt werden oder in hintere Ecken von Archiven gelangen und dort in Vergessenheit geraten. Ab diesem Moment ist der ursprünglich angedachte Erkenntnisgewinn der fotografischen Bilder verschwunden. Sie erzählen dennoch einiges über die Bedingungen ihrer Herstellung und den damit verbundenen normativen Vorstellungen, die nebenbei in die Lehrveranstaltungen Eingang finden. Genau an dieser Stelle setzt Sophia Kestings Projekt Rewriting the Photographic Image an.

An dem Lehrmaterial Kurt Kaindls interessieren Sophia Kesting weniger die technischen Informationen. Sie richtet stattdessen ihren Blick darauf, wie das fotografische Wissen vermittelt wird. Dabei machte sie eine Beobachtung, die ihr in ihrer Arbeit mit dem Medium regelmäßig begegnet ist: In Kurt Kaindls Bildauswahl ebenso wie in anderen Lehrbüchern prägen bis in die 2000er Jahre Männer aktiv die Abbildungen zur Bildgestaltung und -herstellung, Frauen sind hingegen häufig passiv. Inzwischen hat sich diese Geschlechteraufteilung zwar verschoben, die fotografierten und fotografierenden Personen sind jedoch weiterhin in der Regel weiß, binär, jung und gutaussehend. In den gefundenen Lehrdias von Kurt Kaindl erfolgt die geschlechtsspezifische Aufteilung themenbezogen. In den Kapiteln zum Porträt werden Gesichter von Frauen oder nackte Frauenkörper ausgeleuchtet und mit Aufhellern moduliert. Bei der Erläuterung des fotografischen Akts und der Entwicklung von Fotografien sind Männer die bestimmenden Protagonisten hinter der Kamera, im Fotostudio oder in der Dunkelkammer. Wie kann man mit so einem fotografischen Material künstlerisch umgehen, ohne polemisch zu werden? In welcher Form ist eine kritische und zugleich produktive Medienreflexion möglich?

Für Rewriting the Photographic Image entscheidet sich Sophia Kesting zunächst für Ausbreiten  und Hantieren mit dem gefundenen Material. Sie befreit die Frauengesichter von den ausführlichen technischen Beschreibungen und belässt lediglich knappe Hinweise zur Ausleuchtung als Bildunterschriften. Nicht mehr eingezwängt in ein dichtes Textgerüst wirken die Gesichter weniger wie reine Oberflächen. Mit der Zugabe von Weißraum treten vielmehr die subjektiven Züge der Frauen hervor. [S. 13, 19] In einer anderen Bildgruppe hantiert Sophia Kesting wortwörtlich mit den verschiedenen Aufnahmen eines Frauengesichts aus der Nikon Fotoschule. Diese Geste verschiebt unsere Wahrnehmung wirkungsvoll: Nicht die fotografierte Frau erscheint als Objekt im Bild, sondern das Bild selbst, das hier als Abzug in materieller Form sichtbar ist. Sophia Kesting betont zudem den Akt des Betrachtens, indem sie die Porträtaufnahmen so vor ihre Kamera hält, dass wir sie gut anschauen können. Und sie ist es selbst, die die Bilder in der Hand hält – als Künstlerin, Fotografin, Betrachterin und vermutlich ähnlich alte Frau wie die, die hier ausgeleuchtet wurde. [S. 37–44]

Wie in vielen Lehrbüchern ist der Blick hinter die Kulissen auch ein wichtiger Bestandteil von Kurt Kaindls Unterrichtsmaterial, um den Ablauf der Bildproduktion zu erläutern. Die notwendigen technischen Prozesse werden dazu in Einzelbilder zerlegt. Diese visuellen Erläuterungen greift Sophia Kesting mit Reenactments auf und ersetzt die Männer hinter der Kamera, in der Dunkelkammer, im Fotostudio und im Atelier durch sich selbst. Sie übernimmt als Frau nicht einfach den Platz der Männer, sie befragt darüber hinaus die gängigen Repräsentationen der fotografischen Tätigkeit in den vorgefundenen Bildern. Dazu eignet sich Sophia Kesting zunächst mit eigenen Posen die visuelle Darstellung der Entwicklung der künstlerischen Produktion aus dem Lehrbehelf für Fotografie von Kodak an. [S. 53–57] Die Originalbilder verkürzen die Entwicklung in gezeichneten Illustrationen auf einen Höhlenmaler, einen Bildhauer, einen Maler und einen Fotograf. Für ihre Reenactments tritt Sophia Kesting in einen Austausch mit anderen Künstler*innen, positioniert sich vor deren Werken oder nutzt deren Arbeitsmittel für ihre Darstellung der verschiedenen Künste. Dabei ist sie jeweils in einer Rückenansicht zu sehen und steht so stellvertretend für viele Frauen, die einer künstlerischen Tätigkeit nachgehen. Eine Ausnahme und gleichzeitig den Schlusspunkt der Reihe zur Entwicklung der künstlerischen Produktion bildet eine Aufnahme mit einem Fotoapparat. Hier ist Sophia Kesting von vorn und ohne künstlerisches Erzeugnis, aber mit einer vor das Gesicht gehaltenen Kamera zu sehen. Nebenbei erfahren wir auf diese Weise, in welchem Format und wie die Künstlerin ihre Bilder aufnimmt. Die von ihr genutzte Kleinbild-Spiegelreflexkamera Nikon F90X, eine sogenannte handheld camera, erlaubt ein freies, nicht zwingend statisches Fotografieren. Die Kamera ist analog und spricht im Gegensatz zur digitalen Fotografie für ein Interesse an weniger und dafür konzentrierteren Aufnahmen, für die Vorliebe der analogen Bildcharakteristik und häufig für die Arbeit mit den eigenen Fotografien in der Dunkelkammer.

Mit weiteren Bildern buchstabiert Sophia Kesting die Repräsentation der Fotografie weiter aus: Ein Bildpaar macht das Fotografieren als Tätigkeit und das dazugehörige, fertige Motiv sichtbar und lädt dazu ein, wie bei einem Rätselbild Vergleiche zwischen beiden zu ziehen. [S. 58-59] Eine dreiteilige Bildgruppe steht für einen wichtigen Aspekt des Aufnahmeprozesses: die Messung des vorhandenen Lichts mit einem Belichtungsmesser. Mit der Lichtmessung fällt die Entscheidung, welche Stellen im Bild hell und welche dunkel erscheinen und damit auch welche Bildelemente hervorgehoben werden und welche zurücktreten. Den eigentlichen Zweck solcher Bilder – zu erläutern, wie man das Messgerät richtig hält und was darauf abzulesen ist – erweitert Sophia Kesting eindrücklich. Den Belichtungsmesser hält eine Kinderhand, eine Erwachsenenhand und eine ältere Hand. Genau genommen sind das ihre Tochter, ihre Mutter und Sophia Kesting selbst. Die drei haben ganz sicher unterschiedliche Vorstellungen in Hinblick auf die Bildgestaltung mit Licht, schon allein aufgrund ihrer Sehgewohnheiten und Körpergröße. [S. 63–65]

Weitere Fotografien des Projekts führen uns in fotografische Arbeitsräume. [S. 67, 69] In einem Fotostudio positioniert sich Kesting vor einer Camera Obscura und in der Dunkelkammer hantiert sie im Laborkittel mit Fotochemie. Die Künstlerin bedient damit das Genre des Berufsporträts, bei dem in vielen Berufsgruppen meist männliche Protagonisten im Mittelpunkt stehen, nicht nur in der Fotografie. Solche Aufnahmen von Personen bei einem eigentlich unsichtbaren Teil ihrer Arbeit sehen meist seltsam künstlich aus. Die arbeitende Person friert für den Moment des Fotografierens in einer Bewegung ein und doch transportiert sich in dieser Art von Bildern etwas ganz entscheidendes: Wer bestimmt den Arbeitsprozess und wie ist das Verhältnis zur Arbeitsumgebung. Sophias Kestings Reenactments verdeutlichen, dass es im Grunde keinen Unterschied macht, ob Frauen oder Männer im Labor arbeiten, oder anders formuliert, Frauen können und sollten die Bild-Entstehungsprozesse genauso steuern und repräsentieren.

Tritt man bei der Betrachtung von Rewriting the Photographic Image einen Schritt zurück und richtet die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Tatsache, dass sich hier eine Frau den fotografischen Prozess aneignet, zeigen sich weitere Aspekte, die diese Arbeit in ihrer Medienreflexivität auszeichnen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Lehrarchiv hat Sophia Kesting die Frage der Autor*innenschaft beschäftigt, denn der Begriff ist in ihrem Projekt komplex. Einerseits, da es sich um eine Arbeit mit gefundenen Fotografien handelt, die jemand als Lehrmaterialien erstellt und die Kurt Kaindl für seinen Unterricht ausgewählt hat. In diesem befindet sich eine bunte Mischung an nicht benannten Bildautor*innen, die Kurt Kaindl für seinen Unterricht ohne Beachtung des ursprünglichen Kontexts sorglos ausgewählt und reproduziert hatte. Andererseits benötigt die Künstlerin bei den Motiven, wo sie selbst als Person im Bild auftritt, eine weitere Person, die fotografiert. In Anlehnung an die gefundenen Fotografien aus dem Lehrarchiv bestimmt Kesting zwar den Bildaufbau maßgeblich, die zusätzlichen Bildautor*innen bringen sich dennoch subtil mit eigenen Ideen in das geplante Setting ein. Und nicht zuletzt verdeutlichen die drei Personen mit dem Belichtungsmesser, dass die Bildautor*innen Menschen mit ganz unterschiedliche Ideen sein können.

Neben dem Verständnis von Autor*innenschaft ist mit Sophia Kestings Projekt die Frage nach der öffentlichen Sichtbarkeit von Archivmaterial verbunden, das nicht in die Kategorie Kunstwerk passt. Im Bestand des FOTOHOF archiv, der in großen Teilen online einsehbar ist, befindet sich mit der Werkgruppe der Musterbilder von Hans Rustler bisher ein Konvolut das als Lehrmaterial verstanden werden kann. Es handelt sich um Testbilder, die im Rahmen einer Abschlussarbeit an der Agfa Photoschule Berlin entstanden sind. Die Bilder deklinieren die technischen Möglichkeiten beim Herstellen von Fotoabzügen durch und wurden 1931 in der Mustermappe aus der Agfa Photoschule veröffentlicht. Im Zuge der Ausstellung und Publikation von Sophia Kesting wird nun erstmals ein Teil der Bilder aus Kurt Kaindls Diasammlung öffentlich zu sehen sein. Die Künstlerin antwortet so auf die Einladung des FOTOHOF – die Sammlung zu befragen und in Bewegung zu versetzen, mit der Aufforderung, den Blick auf das Archiv zu erweitern und zu überdenken, welche Bildtypen und Bildautor*innen unseren Blick auf die Fotografie prägen.

Publikationsort
Peter Schreiner, Brigitte Blüml-Kaindl, Kurt Kaindl (Hg.): Sophia Kesting. Rewriting the photographic image, Salzburg 2022, S. 46-52.