Christin Müller
☰   Texte EN

Sich selbst ins Spiel bringen

Mit der Erweiterung der bildsprachlichen Mittel der dokumentarfotografischen Praxis geht zunehmend eine Veränderung des Selbstverständnisses der Künstler:innen als Bildautor:innen einher. Die Haltung, die sie bezüglich ihrer Sujets und ihrer Betrachter:innen einnehmen, ist flexibel geworden. Neben dem fotografischen Bericht stehen ein visuelles Nachdenken und ein Sich-in-Bezug-setzen, die geteilte Autorschaft sowie die Einbindung der Betrachter:innenerlebnisse in die dokumentarische Zeugenschaft. Tom Holert beschreibt dies 2008 so: „Die Grenzen zwischen Medienkonsum und Kulturpraxis, zwischen Autor/innen-, Leser/innen- und Zuschauer/innenschaft (spectatorship), zwischen Subjekt- und Objektstatus im Bildraum werden neu konfiguriert oder lösen sich ganz auf.“1 Die Arbeiten der vier Preisträger:innen der Dokumentarfotografie Förderpreise 13 – Sabrina Asche, Luise Marchand, Heiko Schäfer und Wenzel Stählin – spiegeln dieses vielgestaltige Verständnis von Autorschaft im Verhältnis zu den gewählten Themen ihrer Projekte.

Sabrina Asche – partizipatives Erzählen

Sabrina Asche reist für ihre künstlerischen Arbeiten regelmäßig nach Südostasien. Seit mehreren Jahren recherchiert, studiert, arbeitet sie in Indien, Indonesien, Myanmar, Kambodscha sowie Bangladesh und stellt dort aus. Als Künstlerin arbeitet sie nicht mit distanziert beobachtendem Blick, vielmehr ist der Austausch mit lokalen Akteur:innen Ansatzpunkt ihrer Werke. Für die Dokumentarfotografie Förderpreise verfolgt sie ihre künstlerische Auseinandersetzung mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Textilarbeiterinnen weiter und widmet sich ihrem Bild- und Textarchiv zu Textilarbeiterinnen in Bangladesch. Im Verlauf von acht längeren Aufenthalten in Dhaka zwischen 2014 und 2019 knüpfte sie Kontakte zu Unternehmen und Arbeiterinnen der Textilerzeugung und initiierte einen vielschichtigen Austausch. Um „die Frauen kennen[zu]lernen, die in der Textilindustrie tätig sind“, lud sie acht Arbeiterinnen ein, im Rahmen von Workshops selbst zu fotografieren. Sie stattete die Arbeiterinnen mit Digitalkameras aus, bat sie, ihren Alltag zu fotografieren und so ihre eigene Lebensrealität visuell zu reflektieren. Entstanden sind Bilder, die die Frauen selbst, ihre Familien und Freunde in ihrem privaten Umfeld zeigen, wie bei Familienfeiern, beim Essen, Spielen und Sport. Die Aufnahmen geben einen Einblick in die persönlichen Räume, ihre Wohnorte und die sie umgebenden Landschaften. Ausgewählte Bilder wurden im Anschluss ausgedruckt und es fanden Gespräche über die Motive statt, bei denen die Frauen ihre Beobachtungen und Beweggründe für die Aufnahmen auf die Rückseiten der Ausdrucke notierten.
Mit ihrer Werkgruppe Textilarbeiterinnen fotografieren gibt Sabrina Asche einen Einblick in die häufig vergessenen Lebensumstände der globalisierten Arbeitswelten. Sie macht die Textilarbeiterinnen als Individuen sichtbar – dadurch spannt sich ein Bogen zwischen uns in der westlichen Welt, die die Textilien tragen, und deren Herstellerinnen in Bangladesh. Verbunden mit diesem Transfer sind Fragen nach einer angemessenen Form der Aneignung und kulturellen Übersetzung sowie der künstlerischen Verarbeitung.
Sabrina Asche entschied sich, nicht das gesamte Material aus den Workshops mit den Frauen zu präsentieren, sondern mit den Bildern und Texten künstlerisch weiterzuarbeiten. Eine Auswahl der Fotografien bringt sie auf Siebdruckrahmen und bedruckt damit mehrfach Polyesterstoffe. Aus den Fotografien entsteht so ein wiederkehrendes Muster auf den Stoffen. Eine Stoffbahn repräsentiert dabei je eine Arbeiterin. Für dieses Projekt wird die Künstlerin so selbst zu einer Textilarbeiterin, die eine neue Form der Kommunikation über Textilien entwickelt. Dem gegenüber zeigt eine Videoarbeit Ausschnitte aus dem Ausgangsmaterial. Die Kamera bewegt sich von einem Bild zum anderem, zu hören sind Kommentare der Arbeiterinnen zu den Motiven, etwa dazu, was zu sehen ist oder warum sie bestimmte Dinge fotografiert haben. Den Text sprach Asche selbst ein und gibt so den Arbeiterinnen ihre Stimme.

Heiko Schäfer – Beobachtung von Arbeitsrealitäten

Heiko Schäfer setzt sich mit seinem Projekt Disziplinierte Produktion mit der Realität von Arbeiter:innen in der größten Industrieregion Europas, Nordrhein-Westfalen, auseinander. Ihn interessieren die Arbeitsbedingungen und deren Auswirkungen auf die Lebensrealitäten der Arbeiter:innen ebenso wie die Diskrepanz zwischen Alltagsrealität und den Positionierungen politischer Handlungsträger:innen. Wie gerecht sind die sozialen und ökonomischen Bedingungen und Bewertungen von Lohnarbeit und freiwilliger Arbeit? Sein Zugriff auf diese Fragen ist eine Mikrostudie, die für ihn symptomatisch für die Arbeitswelt in der Gegenwart steht. Über die beispielhafte Beobachtung des Alltags von einzelnen Personen verweist er auf die finanziell und rechtlich prekäre Situation europäischer Industriearbeiter:innen. Der Künstler begleitet Samanta, eine Angestellte des Wuppertaler Textilwerks Carl Friedrich. Wir erleben sie bei ihrer Arbeit an einer Textilmaschine und auf dem Weg zu einem Gespräch mit ihrem Vorgesetzten. Flankiert werden diese Bilder von Aufnahmen von einer Rechtsberatung von Clemens im Kölner Erwerbslosen-Anzeigers KEA e. V. sowie von Manuel, André und Jan in der Ausgabestelle von Lebensmittelspenden der Krefelder Engel.
Als Person nimmt Heiko Schäfer durch die Wahl seiner fotografischen Mittel eine gewisse Distanz ein und konzentriert seine Beobachtungen in wenigen, sehr verdichteten Bildern und Texten. Fotografiert hat er mit einer Großformatkamera, die eine sehr detailreiche Wiedergabe der aufgenommenen Situation erlaubt, aber auch eine gewisse Statik mitbringt. Die von ihm gewählte, erhöhte Kameraperspektive gibt einen Überblick über die räumlichen Gegebenheiten und Personenkonstellationen und hat einen objektivierenden Gestus. Das Schwarz-Weiß der Aufnahmen entzieht den Bildern ihre Zeitlichkeit und setzt sie in die Tradition von Film- und Fotoaufnahmen von Industriearbeiter:innen im 19. und 20. Jahrhundert. Damit einher gehen die Fragen, wie sich die Bedingungen der industriellen Produktion und die Vorstellung und Anerkennung von Arbeit verändert haben und wie wir uns heute dazu positionieren. In ausführlichen Untertiteln zu den Bildern wird deutlich, wie unscharf das Verständnis von Arbeit ist, wenn etwa eine Lohnarbeit nicht für die Finanzierung des Lebensunterhalts reicht oder freiwillige Tätigkeit zwar wie eine gewöhnliche Arbeit aussieht, jedoch unvergütet ist und eine Abhängigkeit von Hartz IV zur Folge hat.
In einem Gespräch, das Schäfer mit der Aktivistin und ehemaligen Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann und Clemens Murschall, einem so genannten Aufstocker und Mitarbeiter des Kölner Erwerbslosen-Anzeigers führt, tritt der Künstler als Fragensteller auf. Seine künstlerische Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeitswelt erweitert sich hier um ein Nachdenken über die Richtlinien der Grundsicherung bei Arbeitslosigkeit sowie die Themen Armut und Einsamkeit. Schäfer bringt dieses Gespräch zusammen mit Fotografien der Essensausgabe und der Interviewsituation in einem typischen Zeitungsformat unter. Damit vermittelt er die Aktualität der Themen sowie deren häufiges Fehlen in der Alltagspresse.

Wenzel Stählin – sich körperlich ins Verhältnis setzen

Wenzel Stählins Projekt Konstruktionen. Vorschlag für eine Recherche hat seinen Ausgangspunkt in architektonischen Visionen von der Antike bis in die Postmoderne. Anhand bedeutender Gebäude von Vitruv, Leo von Klenze, Adolf Loos, Mies van der Rohe, Le Corbusier, Paul Schneider-Esleben und Robert Venturi beschäftigt er sich mit paradigmatischen architektonischen Gestaltungselementen und den in sie eingeschriebenen Wertvorstellungen. Bezeichnenderweise ist häufig der männlichen Körper Bezugspunkt und Idealmaß der Entwürfe. Wie kann eine Perspektive auf diese Bauten heute aussehen – in einer Gegenwart, in der der männliche Körper Austragungsort für Debatten um Gendergerechtigkeit ist und patriarchale Ordnungen zunehmend aufgebrochen werden?
Wenzel Stählin beantwortet diese Frage, indem er in seinen Fotografien Architekturmodellen den eigenen Körper als vergleichende Bezugsgröße gegenüberstellt. In Modellen wird die Vision der Architekten präzise sichtbar, unbeeinflusst von aufgezwungenen Veränderungen durch Baubestimmungen, funktionale Bedürfnisse oder Umwelteinflüsse. Der Körper des Künstlers ist hingegen der eines Mannes Mitte dreißig. Anders als die idealtypischen Körper hat er individuelle Eigenheiten und trägt Spuren von persönlichen Erlebnissen. In den Bildern nimmt Stählin verschiedene Posen ein oder führt mit den Händen Gesten, die Gebäude betreffend, aus. Die Haltungen wechseln zwischen aufrechtem stolzen Gebaren, einer präsentierenden oder hinweisenden Handhaltung, dem Abgleich der Oberflächen von Haut und Architektur sowie einer körperlichen Vermessung der Gebäudestrukturen. Diese Konfrontationen von Körper und Modellen, von organischer Bewegung und statischem Baukörper erzeugen ein offenes Spannungsverhältnis, das die Gesetzmäßigkeiten der Architekturen und die ihnen zugrundeliegende Annahme des idealtypischen Körpers des weißen Mannes ins Wanken bringt.
Das Zueinander von Körper und Modell gerät im Fotofilm Body/Building in Bewegung. Zu sehen ist, wie Hände einen rechteckigen Tonblock in eine organische Form bringen und anschließend versuchen, wieder einen gleichmäßigen Quader herzustellen. Zusätzlich zu seinen Bildern setzt Stählin seine Gedanken sowie Anmerkungen von Architekten und von Wissenschaftlern in eigenen Texten in einen Zusammenhang. In diesen Spotlights zeichnet sich die Problematik der Architekturvisionen ab, etwa wenn durch radikale Reduktion von Gestaltungselementen aus Wohngebäuden abstrakte Skulpturen werden oder sich durch Gebäudestrukturen strenge Hierarchieordnungen zwischen Unternehmensleitung und Angestellten bzw. Männern und Frauen verstärken. Innerhalb dieser Elemente der Arbeit Konstruktionen. Vorschlag für eine Recherche entsteht im Ausstellungsraum ein vielstimmiger Dialog, zu dem wir uns als Besucher:innen im Raum automatisch körperlich ins Verhältnis setzen.  

Luise Marchand – mit der Künstlerin zu einem neuen Wir

Thema von Luise Marchands Projekt Liquid Company – Flüssige Gesellschaft ist der Traum von Selbstbestimmung und einem Gleichgewicht von Beruf und Privatleben, die im 21. Jahrhundert zu einer greifbaren Realität werden. Ihren Ursprung hat diese Entwicklung in der New-Work-Bewegung, die im Zuge der Globalisierung, Automatisierung und Digitalisierung in den 1980er Jahren einsetzte und Freiheit, Selbstständigkeit und Teilhabe verspricht. Der Fokus liegt auf persönlicher Entfaltung innerhalb der Arbeitsumgebung und umgekehrt einer höheren Identifikation mit dem Team und dem Unternehmen. Marchand nimmt die sich verändernde Arbeitswelt nicht nur in den Blick, sondern sie wird selbst ein Teil davon: In Jobportalen meldete sie sich mit verschiedenen Profilen an, wurde Teil von innovativen Teamstrukturen. Sie nahm an Teambuilding-Events teil und arbeitete in diversen Co-Working-Spaces. Ihre Aktivitäten und Beobachtungen zeichnete die Künstlerin mit Bildschirmfotos, Foto- und Go-Pro-Kamera auf und entwickelte daraus die immersive Installation From Me to We.
Um die Arbeit betrachten zu können, müssen wir uns in der Ausstellung auf ein Podest legen, erst dann startet das Video. Eine Erzählerstimme lädt uns zu einem Onboarding in einen neuen Employee-Life-Circle ein. Während wir hören, wie wir Teil eines Teams werden können, sehen wir aus der Perspektive der Künstlerin, wie sie in die Sphären des New Work eingetreten ist. Als Betrachter:innen sind wir eingeladen, diesen Prozess des Onboardings geistig und körperlich nachzuvollziehen, indem wir direkt angesprochen werden – „einatmen, ausatmen“. Ein zweite Stimme erzählt aus der Ich-Perspektive, wie sie in die neue Community eintaucht und gemeinsam mit dieser wachsen will. Das Ich zweifelt kurz an den neoliberalen Versprechen, um schließlich völlig in der „schönen neuen Welt“ aufzugehen. Die Installation ist von fünf Fotocollagen mit sprechenden Titeln umgeben: Green Detox, Your Company Loves You, Now; Flatwhite – You Matter; Employee of the Month, Brick to go; Half full und Move Fast. Auf den Bildern lachen uns unzählige Smileys an, Äpfel und Trinkbecher sind mit den titelgebenden Slogans gebrandet und Pappaufsteller stehen stellvertretend für Mitarbeiter:innen.

Luise Marchand macht sich für dieses Projekt eine Form der Zeugenschaft zunutze, bei der die eigene subjektive Erfahrung der Filter für den dokumentarischen Blick ist. Diese Zeugenschaft überträgt sie auf uns, wenn wir uns auf die Installation physisch einlassen. Die Idee des Dokumentarischen manifestiert sich an dieser Stelle nicht nur als visuelles Forschen und Argumentieren seitens der Künstlerin. Wesentlich ist in diesem Projekt die Betrachter:innenerfahrung, die von der Künstlerin gelenkt und unter Einbezug der visuellen und sprachlichen Codes des New Work gestaltet wird.

Thematisch kreisen die Projekte von Sabrina Asche, Luise Marchand, Heiko Schäfer und Wenzel Stählin um die Vorstellungen von Körper und Arbeit in der Gegenwart. Die Perspektiven, die sie dabei einnehmen und wie sie sich als Person ins Spiel bringen, ist hinsichtlich ihrer künstlerischen Interessen fein austariert. Gewählt haben sie ein Themenfeld, das zunehmend an Relevanz gewinnt. In den vergangenen Monaten hat sich sowohl unsere Lebens- und Arbeitsrealität als auch das Verhältnis noch einmal dramatisch verändert und noch ist nicht klar, was davon Bestand haben wird. Die Gastautorin Friederike Sigler betrachtet die vier Projekte im Kontext der medialen Entwicklung von Fotografie und Film seit dem 19. Jahrhundert – und ordnet die Arbeitsweisen der Preisträger:innen so in die historische Entwicklungen von Bildpolitiken und fotografische Praktiken ein.

1   Tom Holert: Regieren im Bilderraum, Berlin 2008, S. 327.

Publikationsort
Dokumentarfotografie Förderpreise der Wüstenrot Stiftung 13, hg. von der Wüstenrot Stiftung, Ludwigsburg 2022, S. 8-12.
Links (intern)
Dokumentarfotografie Förderpreise 13 [Ausstellungen]
Links (extern)
Wüstenrot Stiftung