Was das fotografische Material erzählen kann
Die Fotografie ist als Medium sehr präzise. Bis in kleinste Details, mit immer besseren Objektiven und immer höherer Auflösung hält sie Beobachtungen fest. Durch das Drücken des Auslösers friert ein Moment ein und die Fotografien werden sogleich zu Trägern von Erinnerungen. Inzwischen werden die Bilder nach der Aufnahme meist noch bearbeitet, um die Darstellung zu optimieren. Die Präzision fotografischer Bilder ist jedoch ein Trugschluss, denn sie beschränkt sich auf die Wiedergabe des Äußeren. Fotoapparate tasten Oberflächen genau ab, dringen aber nicht zu inneren Zuständen vor. Auch beim Betrachten verfangen wir uns leicht in den vielen Bildinformationen, die uns die Motive bieten. Der nach dem Auslösen vergangenen Zeit und den damit verbundenen Emotionen schenken wir meist wenig Aufmerksamkeit. Genau an dieser Stelle setzt Raisan Hameed an. In seinem Werk betrachtet er Fotografien als Bildkörper, in deren spezifischer Gestalt sich individuelle Emotionen und kollektive Erfahrungen ablesen beziehungsweise einschreiben lassen. Er hatte zunächst als Bildjournalist versucht, die Geschehnisse in seinem Heimatland Irak fotografisch zu dokumentieren. Mit den klassischen Mitteln der Dokumentation fand er jedoch keine visuelle Entsprechungen für die Wucht der Kriege, die das Land seit Jahrzehnten erschüttern und die Gesellschaft zerreissen. Statt möglichst viele Ereignisse genau zu festzuhalten, sucht Raisan Hameed nun in dem fotografischen Material und in Leerstellen Bilder für die Auswirkungen von Flucht und Migration.
Das Ausgangsmaterial für seine Werkgruppe Zer-Störung sind Familienfotos aus Raisan Hameeds privaten Archiv. Während einer der vielen Kriege im Irak musste die Familie des Künstlers aus ihrem Haus fliehen und lies dabei die gerahmten Bilder zurück. Bei ihrer Rückkehr waren sie von den Wänden gefallen, die Gläser beschädigt und die Oberflächen der Abzüge verletzt. Risse und Kratzer durchziehen nun die Bilder, kleinste Glassplitter hängen noch in dem Material fest. Zudem berichten Abdrücke und Knicke von der Bedeutung der Aufnahmen für die Familie. Als seltene Zeugnisse des gemeinsamen Lebens wurden die Bilder zwischen den Familienmitgliedern hin- und hergereicht. In seiner künstlerischen Übersetzung fokussiert Raisan Hameed auf die Materialschäden als Symbole für die körperlichen und seelischen Wunden, die das Erleben von Kriegen mit sich bringt. In stark vergrößerten Ausschnitten durchziehen die abhebende Gelatineschicht und die weißen Fehlstellen das Abgebildete wie Krater in einer verwüsteten Landschaft. Die Beschädigungen gleichen abstrakten Zeichen, während die Körper der Personen durch die Bildstörungen fragmentiert werden.
Mit Embers of Narrative kehrt Raisan Hameed über die digitalen Kanäle in den Irak zurück. Größere öffentliche Archive existieren nicht mehr, Google schickt keine Fahrzeuge zur systematischen Erfassung in das Land und eine eigene Reise ist für ihn seit seiner Flucht 2015 aus politischen Gründen nicht mehr möglich. Im Internet veröffentlichte Aufnahmen von Amateur:innen sind daher für den Künstler die einzige Möglichkeit, sich ein umfassenderes Bild der aktuellen Situation in seinem Geburtsland zu machen. Raisan Hameed wählt Panoramaaufnahmen von Orten im Irak aus, die ihm aus seiner Kindheit vertraut sind. Die Bilder zeigen Architekturfragmente, beschädigte Kulturdenkmäler, zerrüttete Landschaften, umherstreunende Personengruppen ebenso wie Versuche des Wiederaufbaus. Seine emotionale Verunsicherung in Hinblick auf die Situation im Irak, die Brüchigkeit des Lebensalltags sowie den Kreislauf von Zerstörung transportiert das von dem Künstler gewählte fotografische Material und dessen Bearbeitung. Zunächst mit einem schwarzweiß Drucker auf Thermopapier ausgedruckt, kommen die aneinandergereihten Aufnahmen als schier endlose düstere Landschaften daher. In dieser Serie greift Raisan Hameed nun selbst in den Bildkörper ein. Mit einem Feuerzeug schwärzt er Teile des Hitze empfindlichen Papiers. Dabei entstehen unregelmäßige Flecken, die sich wie Feuer sich durch die Landschaften fressen und deren Glut unkontrolliert weiter glimmt. Welche Bildinformationen bei dieser Bearbeitung ausgelöscht werden und wo somit die Bilderzählung unterbrochen wird, unterliegt dem Zufall. Auf Stoffbahnen gedruckt und im Raum inszeniert, erhalten die Aufnahmen eine körperliche Präsenz, der wir beim Betrachten ausgesetzt sind. Wie bei Zer-Störung erzeugen die vermeintlichen Fehlstellen in Embers of Narrative visuelle Unterbrechungen. Als Metapher stehen sie für den Versuch des Künstlers, ein alternatives Erinnern an die vergangenen Ereignisse zu initiieren und einen Neuanfang zu denken.