Christin Müller
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Das stille Bild verlassen

Wie hoch, breit, tief und wie flexibel ist ein Bild?

Für viele ist die Fotografie ein Fenster zur Welt: ein stillgestellter Blick auf die Wirklichkeit, begrenzt auf die rechteckige Fläche eines Papierabzugs oder Monitors. Doch gerade Künstlerinnen und Künstler hat diese Reduktion auf eine zweidimensionale Fläche immer ein wenig irritiert. Sie schauen hinter die Fensterfläche und rücken die Frage nach dem Wie ins Zentrum: Wie übersetzt sich eine Bildidee in eine Fotografie? Wie treten uns die Bilder entgegen? Welche Darstellungsmöglichkeiten ergeben sich aus der Vielzahl an Materialien, aus dem Nebeneinander von analoger und digitaler Fotografie, Film, Projektion und Performance? Wie können die Grenzen des Mediums produktiv überschritten werden? 

Seit der Erfindung der Fotografie in den 1830er-Jahren sind Kameratechnik und Bildkonventionen in Bewegung. Die damit verbundenen medialen Revolutionen sind für Künstlerinnen und Künstler ebenso Mittel wie Angriffsfläche, um über unsere Bilderwelt nachzudenken, ihre Grundfesten zu hinterfragen und zu überschreiten. Zugleich werden von den Übergängen in das Performative und dem Besetzen von Dispositiven des Kinos und Videos die Bedingungen des Mediums ausgehandelt und neu definiert.1Wie verändert sich unser Verständnis von Fotografie, wenn diese den Rahmen des klassischen Papierabzugs verlässt und das fotografische Off Teil des Bildes wird?

Diese Ausstellung versammelt ruhige und wilde Attacken gegen den eigentlichen Auftrag der Kamera, das Gegebene und Vorgefundene aufzuzeichnen. In diesem Sinne denkt sie über die Erweiterung der Fläche, des Raums und der Zeitlichkeit der fotografischen Darstellung nach und verlässt dafür das „große stille Bild“2.

Das Sichtfeld erweitern
Mit dem fotografischen Panorama arbeiten die Fotografinnen und Fotografen gegen die Bildgrenzen an. Sie erweitern den Bildraum und schauen hinter dessen enggefasste Ränder. Ed Ruscha setzt mit Every Building on the Sunset Strip die Bildbreite seiner Darstellung ins Verhältnis zur Länge des kalifornischen Boulevards. Mehr noch, er räumt seinem Panorama eine Vollständigkeit in der Darstellung ein. Alle Häuser beider Straßenseiten sind in diesem Panorama zu sehen. Seine Aufnahme entstand 1966 mit einer automatisch auslösenden Kamera, die, montiert auf einem Auto, während der Fahrt den Boulevard in Los Angeles fotografierte. Einer solchen Vollständigkeit gleichbleibender Perspektiven traut die Künstlerin Barbara Probst nicht. Ihre Exposures (seit 2002) zeigen ein Kaleidoskop an Blicken auf eine ausgewählte Situation und machen diese ambivalent: Jedes Einzelbild zeigt jeweils nur eine Möglichkeit der Darstellung. Im nächsten Bild, zeitgleich aus einem anderen Blickwinkel fotografiert, kann die gleiche Szenerie völlig anders gedeutet werden. In Trisha Bagas Arbeit Oasis (2016) wird die Idee der panoramatischen Abbildung und Multiperspektive nochmals gesteigert. Ihre Installationen sind in den Ausstellungsraum gegossene Bilder, in dem ausgebreitete Objekte mit einer darüber liegenden dreidimensionalen Projektion zu einer surrealen Bildcollage verschmelzen. Unser Blick wird in diesem Panorama kaum noch geführt. Nebenbei hebelt die Künstlerin ein Paradigma der Fotografie aus: Wenn wir in ihrer Installation mit Augen und Körper im skulpturalen und projizierten Bildraum umherwandern können, erscheint die Idee des „entscheidenden Augenblicks“, eines der Dogmen der klassischen Fotografie, als definitiv überholt.

Die Grenzen unserer Wahrnehmung im technischen wie spekulativen Sinne reflektiert Rosa Barba mit The Color Out of Space. In dieser Installation eröffnet sich über astronomische Aufnahmen – aus dem Hirsch Observatorium am Rensselaer Polytechnic Institute in Troy, New York – ein Blick in ferne Galaxien. Möglich ist diese Fernsicht für die Kamera und uns nur durch den Einsatz von Farbfiltern. In Rosa Barbas Installation haben diese die umgekehrte Funktion. Durch die Positionierung zwischen Projektor und Projektionsfläche stören die Filter die hochaufgelösten Himmelsansichten und öffnen einen Raum für Spekulationen. 

Hybride Bildformen 
Die analog-chemische oder digitale Basis des Mediums ermöglicht eine Vielzahl an Ausgabeformaten. Geprintet werden kann inzwischen auf so gut wie alle Materialien, in der Projektion sind Fotografien körperlos. Diese mediale Flexibilität macht Fotografien durchlässig für andere visuelle Ausdrucksformen und neue räumliche Dispositive. Welche Symbiosen kann die Fotografie eingehen und was wird durch diese sichtbar? 

Barbara Kasten und Marcel Broodthaers initiieren mit ihren Arbeiten eine Liaison zwischen Fotografie und Skulptur. Barbara Kasten, indem sie verschiedenartig zusammengestellte geometrische Formen so fotografiert, dass die Materialität des Skulpturalen in die Fläche transferiert wird. Marcel Broodthaers, indem er mit einem einfachen Handgriff – über das Platzieren einer Fotografie in einem Einweckglas – aus dem Bild eines Auges ein dreidimensionales Objekt macht und so der Fotografie einen neuen Körper und eine andere Bedeutung gibt. Noch einen Schritt weiter geht das Künstlerpaar Pétrel I Roumagnac (duo). Die Künstler drucken ihre Bilder und Bildfragmente auf lange Papierbahnen, Plexiglasscheiben, Holzbretter und gefundene Gegenstände und platzieren diese im Ausstellungsraum. Diese fotoszenischen Inszenierungen sind Spiegel der sie umgebenden Architektur, erzeugen Illusionen oder erzählen eine Geschichte. Für die Biennale entstand eine Arbeit, die die Architektur des Wilhelm-Hack-Museums mit dem Haus des Asterion von Jorge Borges in Beziehung setzt und auf Euripides’ klassische Tragödie Die Kreter Bezug nimmt. Als Objekte sind die Fotografien in den Installationen des Künstlerduos im wahrsten Sinne des Wortes flexibel: etwa wenn sich ein auf eine Plexischeibe gedrucktes Bild durchbiegt oder wenn einzelne Bildelemente einem Protokoll folgend umgestellt und in neue Konstellationen gebracht werden. Es entsteht ein Hybrid aus fixiertem Bild und performativer Skulptur, das neben dem Körper der Fotografie auch deren Zeitlichkeit und Narration dekonstruiert.

Die Charakteristika von Fotografie und Film verschränken sich im Spannungsverhältnis von eingefrorener Bewegung und bewegtem Bild. Étienne-Jules Marey und sein Assistent Georges Demenÿ, zwei Pioniere der Chronofotografie Ende des 19. Jahrhunderts, zerlegten die Bewegungen von Personen, Objekten und Tieren in gleichmäßige visuelle Intervalle. Über die Mehrfachbelichtung bannten sie diese Bewegungsfragmente als kleine filmische Sequenz in eine einzige Fotografie. Wir sehen dadurch einen Bewegungsablauf auf einmal, dessen Einzelschritte eigentlich nacheinander passieren. Mit ihren körperlichen Interventionen stellen Yves Klein und Sebastian Stumpf zwei entgegengesetzte künstlerische Haltungen dar. Anders als Demenÿ. Und Marey beschäftigen sie sich nicht wissenschaftlich, sondern voller Eigensinn mit dem Verhältnis von Aufführung und Aufnahme. 

Yves Klein springt 1960 ins Leere. In der Fotografie friert er mitten im Sprung ein und nutzt die Montage zweier Bildrealitäten, um die Aufmerksamkeit auf den Raum an sich zu richten. Wie es nach dem Sprung bzw. dem mit der Kamera vollzogenen Zeitschnitt wirklich weiterging – Yves Klein landete sicher in einem Sprungtuch – verschweigt das Bild. Beim Betrachten der Fotografie entsteht stattdessen eine Fiktion in unserem Kopf, in der sich der dramatische Sprung des Künstlers fortsetzt. 

In den Videoarbeiten von Sebastian Stumpf passiert auf den ersten Blick nicht viel. Sie sind mit fester Kameraeinstellung aufgenommen, so dass wir uns im Bildraum ähnlich wie in einer Fotografie umschauen können. In River (2017) fließt ein in einen engen Betonkanal eingefasster Fluss durch die weite, urban geprägte Landschaft von Los Angeles. Im Fluss bzw. durch mehrere aufeinanderfolgende Einstellungen treibt eine Person dem pazifischen Ozean entgegen. Dieses Treiben will genauso wenig zur betonierten Flusslandschaft passen wie der menschliche Körper zur monströsen Infrastruktur. Die Endlose Treppe von Max Bill3 ist Ausgangspunkt einer zweiten Videoarbeit. Darin läuft eine Figur Bills spiralförmig aufeinandergestapelte Granitblöcke ab. Das Auf- und Absteigen dieser Treppe ist zwar ruhig und gleichmäßig ausgeführt, dennoch besteht ein Kontrast zwischen der mathematischen Genauigkeit und Abstraktion der Skulptur und den im Detail variierenden Körperbewegungen. In beiden Projektionen ermöglicht uns die filmische Endlosschleife, das Verhältnis der Interventionen zu deren Aufführungsort immer wieder aufs Neue zu befragen.

Enden der Fotografie
Haben die bisherigen Positionen die medialen Grenzen von Fotografien überschritten, führen uns die folgenden die materiellen und räumlichen Endpunkte, das Erscheinen und Verschwinden von Bildern vor Augen. Einen Versuch, das Volumen des Video-Raums abzustecken, unternimmt Buky Schwartz mit seinen Video Constructions (1978). In fünf Filmsequenzen markiert er die hintere und vordere Grenze seines Bildes und durchmisst den Bildraum mit dreieckigen und rechteckigen Farbflächen, semitransparenten Folien und schwarzen Kanthölzern. Gekonnt positioniert er seine Hilfsmittel und bewegt sich leichtfüßig wie ein Bildermagier durch sie hindurch. Bei dieser visuellen Zauberei kommt dem Künstler die Low-Res-Qualität der Videoaufnahmen aus den 1970er-Jahren zugute, sie lässt ihn hin und wieder vor unseren Augen mitten im Bild verschwinden.

Auf die materiellen Grenzen eines fotografischen Abzugs verweist Dirk Braeckman, wenn er über die Reflexion des Blitzes die Strukturen des Fotopapiers sichtbar macht und dabei akzeptiert, dass das von ihm fotografierte Zimmer teilweise überstrahlt wird. In der Kombination mit einem tief schwarzen Rand an drei Seiten des Bildmotivs scheint der Künstler zu sagen: „Genau hier, an dieser Stelle ist die Fotografie zu Ende“. Doch es ist ein visueller Trick, auch der Blitz und die Ränder sind im Foto eingeschlossen.

Oscar Muñoz macht in seiner Videoinstallation Sedimentaciones (2011) Formen des Übergangs und die damit verbundenen Erinnerungsmechanismen von Fotografien sichtbar. In zwei Projektionen auf Tischen sind Schwarz-Weiß-Abzüge zu sehen, die in einem Wasserbecken entstehen, kurz in der Videoprojektion verweilen, um sich schließlich in einem anderen Becken aufzulösen. Ein solches medienreflexives Nachdenken über Fotografie ist ein existenzielles: Was bleibt von den Bildern, wenn sich die Prints auflösen, der Projektor ausgeht und der Datensatz gelöscht wird?

1   Vgl.: Reinhard Braun: Editorial, in: Camera Austria International, 36. Jg., 136/2016, S. 8.

2   Norbert Bolz und Ullrich Rüffer fragen in ihrem Sammelband Das große stille Bild nach dem Bestand der klassischen Fotografie im Übergang zur Digitalisierung. Die Destabilisierung und die Erweiterung der Bilder sehen nicht als Gefahr sondern als Grundbedingung für das Fortbestehen des „stillen Bildes“. Dessen Funktionsweise muss jedoch neu definiert werden (Vgl.: Norbert Bolz, Ulrich Rüffer (Hg.): Das große stille Bild, München 1996.

3   Max Bills Skulptur ist eine Hommage an Ernst Blochs Prinzip Hoffnung und wurde 1991 anlässlich der Feierlichkeiten zum Jubiläum seines 100. Geburtstags neben dem Eingang des Wilhelm-Hack-Museums errichtet.

Publikationsort
Farewell Photography. Biennale für aktuelle Fotografie, hrsg. v. Florian Ebner, Christin Müller, Biennale für aktuelle Fotografie, Ausst.-Kat., Köln 2017, S. 52-56