Fotografierte Reflexionen des Ich
Bei der Selbstbetrachtung im Spiegel vervielfacht sich das Ich, lässt sich aus den Augen eines Aussenstehenden beobachten und in seiner Wirkung formen. Gemütsregungen und Rollen können ausprobiert werden wie Kleider. Wenn dieser stumme Dialog in Fotografien fixiert wird, zeigt sich, wie im Sich-Anblicken und Posieren Vorstellungen des Selbst zur Aufführung gelangen. Eine häufige Form der Selbstinszenierung von Fotografinnen und Fotografen ist das Berufsporträt. Dieses repräsentiert nicht nur die Profession seiner Urheberinnen und Urheber. Es verkörpert auch deren künstlerische Haltung, Vorlieben in der Bildgestaltung und das Verhältnis zur Technik. Findet hingegen eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität im Sinne einer Befragung des Ichs statt, sind die fotografischen Reflexionen vielgestaltiger. Die Selbstporträts gleichen dann einer Suche, einer Behauptung, möglicherweise einer Performance oder einem Spiel.
«Der überlegte Einsatz des Spiegels ist ein charakteristisches Kennzeichen der weiblichen Selbstporträts […]. Den meisten männlichen Selbstbildnissen fehlt jede Form von Verunsicherung und Selbstzweifel, meistens setzen sie sich stolz und als Beherrscher der Bildmaschine in Szene», schreibt Herbert Moderings über die Praxis der 1920er-Jahre. Diese grössere Radikalität sich selbst gegenüber stellt auch Elisabeth Bronfen fest. Mit Verweis auf John Berger merkt sie an, dass gerade weil das Bild der Frau seit Jahrhunderten durch den männlichen Blick geprägt sei, es Künstlerinnen «vielleicht leichter [falle], die damit einhergehende Verdinglichung des Ichs spielerisch zu inszenieren». Diesen Annahmen folgend werden in diesem Text ausschliesslich Selbstporträts von Frauen betrachtet. Durch die Gegenüberstellung von jeweils zwei Künstlerinnen eröffnen sich vielgestaltige inhaltliche und formale Perspektiven auf das Selbst – um aufzuzeigen, welche Motive und Möglichkeiten sich hinter dem Blick in den Spiegel verbergen.
Konstruierte Identitäten
Mit unserem Gesicht produzieren wir «eine mimische oder maskenhafte Repräsentation, um ein Selbst zu zeigen oder zu verbergen». Was Hans Belting über unser Mienenspiel im Allgemeinen beschreibt, setzten Florence Henri (1893–1982) und Amalia Ulman (geb. 1989) gezielt ein. Das Spiegelbild von Henri aus dem Jahr 1928 zeigt eine prototypische «Neue Frau». Mit modernem Kurzhaarschnitt, schlicht gekleidet und konzentriert sitzt sie büstenhaft da und präsentiert sich als Künstlerin. Die klaren Linien und abstrakten Flächen erinnern an die konstruktivistischen Ansätze von László Moholy-Nagy und El Lissitzky. Am unteren Ende des Spiegels sind zwei Metallkugeln platziert, die, zusammen mit dem Spiegel, als phallisches Symbol gedeutet werden können, oder aber als weibliche Brüste. Verweisen könnten die Kugeln auch auf die fotografischen Experimente am Bauhaus Dessau, wo Henri 1927 als Gaststudentin eingeschrieben war. Signifikanterweise stellte Henri diese Fotografie erstmals in der visionären Ausstellung Film und Fotografie 1929 in Stuttgart aus und publizierte es im selben Jahr in dem programmatischen Buch foto-auge – womit sie sich endgültig Eintritt in die von Männern dominierte fotografische Avantgarde verschaffte.
Amalia Ulman inszeniert in ihrer Instagram-Performance Privilege (2015/16) ihr eigenes Arbeits- und Privatleben zwischen Realität und Fiktion. Mit zahlreichen Selbstporträts im Spiegel reflektiert sie die derzeit populärste Form der Selbstfotografie in den Sozialen Medien – das mirror selfie – und lotet die Beschränktheit der zur Verfügung stehenden Rollen aus. Als Format entspricht das Selfie weniger einer Auseinandersetzung mit der eigenen Person. Vielmehr ermöglicht die digitale Konstruktion von Identität eine Teilhabe an einer sozialen Praxis der visuellen Kommunikation, die die Interaktion mit einem Millionenpublikum bei der Veröffentlichung eines Selfies einschliesst.
Variabilität des Weiblichen
Der Spiegel bietet eine Reflexionsfläche für die Vorstellungen von Geschlechtern. «Die Karten vertauschen. Männlich? Weiblich? Das entscheidet sich von Fall zu Fall. Neutrum ist das einzige Geschlecht, was mir auf Dauer behagt.» Als Frau und Lesbierin in einer patriarchalischen Kunst- und Literaturwelt, als Jüdin und radikale Sozialistin in einer kapitalistischen und antisemitischen Gesellschaft widersprach Claude Cahun (1894–1954) vielfach dem traditionellen Frauenbild ihrer Zeit. Ihre Selbstbildnisse der 1920er-Jahre ermöglichten es ihr, die konventionellen Codes des weiblichen Äusseren zu durchbrechen und sich aus der Distanz zu betrachten. In ihren Bildern zeigt sich Cahun mit kurzgeschnittenen Haaren oder kahlgeschorenem Kopf, androgyner Mimik und Kleidung. Sie setzt Spiegel und reflektierende Flächen ein, um ihre Entwürfe eines anderen Geschlechts in der Verdoppelung zu bestärken oder zu destabilisieren.
Helga Paris (geb. 1938) integrierte in ihr Selbstporträt von 1971 konträre weibliche Rollenvorstellungen durch an den Spiegel geheftete Bilder: Eine Grafik vermutlich des 19. Jahrhunderts zeigt vier sittsam gekleidete junge Frauen bei einer Plauderei. Davor steht ein Gemälde mit einem abstrahierten nackten Paar in einer Landschaft. Über der Grafik steckt eine Fotografie von Marilyn Monroe, die Filmikone und Sexsymbol der westlichen Welt. Zwei Kinderzeichnungen verweisen auf den Alltag von Paris als Mutter in der DDR. Zwischen diesen Rollen steht sie selbst in ihrer Ostberliner Wohnung. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war Paris 33 Jahre alt, hatte Modegestaltung studiert, in der Bekleidungs- und Werbeindustrie gearbeitet, zwei Kinder bekommen, sich für einen Wechsel zur Fotografie entschieden und bereits erste Fotoaufträge erhalten. Sie blickt fragend, etwas ratlos in ihr eigenes Angesicht, als müsse sie sich für einen Frauentyp entscheiden.
Reflexion im Alltag
Die Werke von Vivian Maier und Nan Goldin sind von im Alltag aufgenommenen Spiegelselbstporträts durchzogen. Maier (1926–2009) arbeitete als Kindermädchen, fotografierte von ihrer Umgebung weitestgehend unbemerkt obsessiv den Lebensalltag und sich selbst in den Strassen von Chicago und New York in den 1950er- und 1960er-Jahren. In unzähligen Selbstporträts in reflektierenden Oberflächen und Spiegeln schaut Maier in eine unbestimmte Ferne oder verdeckt ihr Gesicht mit der Kamera. Ihr Gesichtsausdruck ist stets konzentriert und gefestigt, als wolle sie sich mit ihrer Kamera bewusst als ernsthafte Fotografin in ihrer Umgebung inszenieren und ihr tatsächliches Leben ausblenden.
Nan Goldins (geb. 1953) visuelle Berichte ihres Erlebens der US-amerikanischen Underground-Szene der 1970er- und 1980er-Jahre haben etwas Existenzielles. Der Blick in den Spiegel ist für sie eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der eigenen Gefühlswelt, mit Freudentaumel, Ekstase, Rausch, Gewalt und Trauer. Mit den Fotografien vergewissert sich Goldin den Spuren ihres Lebens und hält diese fest: «Ich sage immer, dass mein Werk aus dem Wunsch entsteht, mein Leben nicht zu belügen, eine Aufzeichnung meines Lebens zu hinterlassen, die keiner anzweifeln kann.»
Verortung in einer Gesellschaft
«Mit nach innen und aussen gerichtetem Blick verfolge ich den Wunsch, Grenzen zu überschreiten.» LaToya Ruby Frazier (geb. 1982) verknüpft in ihrem Projekt A Notion of Family (2014) den privaten Kosmos ihrer afroamerikanischen Arbeiterfamilie mit der Community ihres Heimatquartiers Braddock, einem Viertel von Pittsburgh, das vom Niedergang der Stahlindustrie gezeichnet ist. Das Verhältnis von kollektiver Geschichte und persönlichen Gefühlslagen illustriert sie durch das Nebeneinander von Aufnahmen der Stadtlandschaft und Porträts ihrer Grossmutter, Mutter und von sich selbst. In den eingestreuten Spiegelporträts innerhalb der Serie verdichtet sich das Wechselspiel von innerer Gefühlswelt und Prägung durch die Aussenwelt in der Person der Künstlerin.
Die ägyptische Gesellschaft, in der Nadia Mounier (geb. 1988) arbeitet, ist durch eine starke Trennung von Männern und Frauen geprägt. Mounier interessiert sich für die Fotografien, mit denen Menschen ihr Arbeitsumfeld gestalten. Bei ägyptischen Barbieren etwa finden sich oft wandfüllende Poster von westlichen Schauspielern, Sportlern und Models – als Vertreter körperlicher Perfektion und freiheitlicher Lebensentwürfe. Mit ihrem eigenen Abbild im Friseurspiegel verschafft Mounier sich selbst und den Rezipientinnen ihrer Bilder Eintritt in die Räume und Begierden einer ihnen sonst verschlossenen sozialen Sphäre.
Gespiegelte Klischees
«Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?» Mit dem Blick in den Spiegel ist das Klischee von weiblicher Eitelkeit und des masslosen Strebens nach Schönheit verbunden, das durch medial verbreitete Geschlechterrollen permanent wiederholt wird. Cindy Sherman (geb. 1954) und Zanele Muholi (geb. 1972) nutzen ihre Körper als Repräsentationsfläche, um solche Rollenklischees zu untersuchen. In Shermans Untitled Film Still #2 von 1977 probt eine in ein Handtuch gewickelte Frau eine laszive Pose und überprüft deren Wirkung in einer Unterhaltung mit ihrem Spiegelbild. Durch das präzise gesetzte Licht, die gewählten Posen und das Setting erinnern Shermans Inszenierungen an amerikanische B-Movies und dekonstruieren weibliche Rollen als austauschbare Abziehbilder.
Die visuelle Aktivistin und Künstlerin Zanele Muholi betrachtet in Somnyama Ngonyama (Zulu: Heil der schwarzen Löwin) das Klischee der schwarzafrikanischen Frau als Gefüge von Vorstellungen über Gender und Ethnie. Sie malt sich ihr Gesicht in der Tradition des Blackfacing schwarz an und inszeniert sich als Wilde, als exotisches Wesen oder als Trophäe mit fetischistischen Accessoires, bei denen es sich um zweckentfremdete oder kuriose Objekte handelt. Über einen Spiegel blickt sie ihre Betrachterinnen und Betrachter an. Auf diese Weise thematisiert sie nicht ihre eigenen Begierden, sondern das Angeschautwerden und stellt sich selbst als Projektionsfläche für uns zur Verfügung.
Multiplizierte Körper
Hannah Villiger (1951–1997) und Marianne Brandt (1893–1983) nutzten spiegelnde Objekte für ein skulpturales Experimentieren mit ihrem Körper. Villiger fotografierte aus der Distanz ihrer Armlänge und durchbrach mit Hilfe von Spiegeln das Gefüge des eigenen Körpers. In ihrem «Spiel zwischen dem Ich und dem mir» erscheinen Arme, Beine, Kopf, Brust, Haut und Haar als Fragmente. Im Bild setzte Villiger ihre Körperteile in abstrakten Kompositionen so wieder zusammen, dass sich «nur der reine Klang entblösst».
In den Kugelstillleben der Bauhausschülerin Marianne Brandt zeigt sich der Aspekt der Vervielfältigung auf andere Weise. Hier bildet sich in grossen und kleinen Metallkugeln ein Raum ab, in dem sich Brandt genau mittig positionierte. Ihre Beine formen ein Dreieck, an dessen Spitze sich die von ihr gehaltene Kamera befindet. Die Reflexion des Raumes springt zwischen den Kugeln unendlich hin und her. Brandts fotografische Kompositionen entstanden aus der Lust am spielerischen Gestalten. Sie verweisen zudem auf die bedrückende Enge der Lebens- und Arbeitssituation der Studierenden am Bauhaus in Dessau und durch die Wiederholung des Bildmotivs auf die Reproduzierbarkeit der Fotografie sowie den Verlust des Originals. Die Mehrfachspiegelung des eigenen Ich findet sich auch in Ilse Bings (1899–1998) Selbstporträt von 1931. Der Einsatz von Metallkugeln und konkaven Spiegelflächen war im Vorkurs von Moholy-Nagy ebenso verbreitet wie unter Künstlerinnen und Künstlern der 1920er-Jahre wie etwa Aenne Biermann, Elisabeth Hase, Grit Kallin-Fischer, Albert Renger-Patzsch und Umbo.
Symbole und Metaphern
In den Arbeiten von Tokyo Rumando (geb. 1980) und Francesca Woodman (1958–1981) ist der Spiegel nicht nur Mittel, den ihn umgebenden Raum zu reflektieren, sondern vor allem Symbol und Metapher. Für ihre fotografischen Performances tauscht Rumando die Reflexionsfläche eines runden Spiegels gegen fragmentarische, selbst erdachte und aufgenommene Szenerien aus. Verkörperungen von Erinnerungen, Begierden, Ängsten, Wahnsinn, Leere, Tod und Dunkelheit nehmen vor ihren Augen Gestalt an. Sie selbst erinnert als Rückenfigur an die Bedeutung der Betrachterinnen und Betrachter und des Schauens als Reflexionsform.
In Francesca Woodmans Fotografien ist die Spiegelfläche fast völlig entleert. Während die Künstlerin im ersten Bild der Serie Self Deceit noch um eine Raumecke kriechend in den Spiegel schaut, ist sie in den weiteren Aufnahmen nur noch schemenhaft zu erkennen, als wolle sie sich vor ihrem Abbild verstecken und im Raum auflösen. In einem Bild hält die Künstlerin einen Spiegel in den Händen und richtet diesen aus dem Bild heraus. Die Spiegelung ist nicht viel mehr als eine helle Fläche, die ebenso unbestimmt ist wie die sie umgebende Architektur und die Antwort auf die Frage danach, wer im Angesicht des Spiegels der oder die Getäuschte ist. Auf diese Weise konfrontiert Woodman die Betrachterinnen und Betrachter – im Gegensatz zu einer Fülle an möglichen Selbstbespiegelungen – mit einer bedeutungsschwangeren Leere.
Verwendete Literatur
Herbert Molderings, «Spiegel, Masken und Räume. Selbstporträts von Fotografinnen der zwanziger und dreißiger Jahre», in: ders. (Hrsg.), Die Moderne in der Fotografie, Hamburg 2008, S. 245–272 (das verwendete Zitat von Molderings S. 251, das von Cahun S. 265)
Elisabeth Bronfen, «So sind sie gewesen. Inszenierte Weiblichkeit in den Bildern von Fotografinnen», in: Female Trouble. Die Kamera als Spiegel und Bühne weiblicher Inszenierungen, hrsg. von Inka Graeve Ingelmann, Ausst.-Kat. Pinakothek der Moderne, München; Ostfildern-Ruit 2008, S. 11–20 (das verwendete Zitat S. 16)
Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013, S. 11 Diana C. Du Pont, Florence Henri: Artist-Photographer of the Avant-Garde, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, San Francisco 1990, S. 20
André Gunthert, The Consecration of the Selfie: A Cultural History, 2018; https://imagesociale.fr/1413
Inka Schube, Helga Paris. Fotografie, hrsg. vom Institut für Auslandsbeziehungen, Ausst.-Kat. Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, Georgian National Museum, Tiflis u. a.; Ostfildern 2012
«Vom Akzeptieren: Ein Gespräch. Nan Goldin unterhält sich mit David Armstrong und Walter Keller», in: Nan Goldin: I’ll be your mirror, hrsg. von Elisabeth Sussman und David Armstrong, Ausst.-Kat. Whitney Museum of American Art, New York, und Kunstmuseum Wolfsburg; Zürich u. a. 1996, S. 447–462 (das verwendete Zitat von Nan Goldin S. 450)
LaToya Ruby Frazier u. a., LaToya Ruby Frazier: The Notion of Family, New York 2016, S. 8
Jolanda Bucher, «Vorwort», in: Hannah Villiger, hrsg. von Jolanda Bucher und Eric Hattan, Ausst.-Kat. Kunsthalle Basel und Bonner Kunstverein; Zürich u. a. 2001, S. 7–9 (das verwendete Zitat von Villiger S. 7)
Claudia Spinelli «Existentielle Notwendigkeit. Leben und Werk von Hannah Villiger», in: Hannah Villiger, hrsg. von Jolanda Bucher und Eric Hattan, Ausst.-Kat. Kunsthalle Basel und Bonner Kunstverein; Zürich u. a. 2001, S. 31–65 (das verwendete Zitat von Villiger S. 47)
Elisabeth Wynhoff, «Marianne Brandt – eine Fotografin im Kontext der Bauhausfotografie», in: Marianne Brandt. Fotografien am Bauhaus, hrsg. von Elisabeth Wynhoff, Ausst.-Kat. Institut für Kunst und Design im Kolkmannhaus, Ostfildern-Ruit 2003, S. 17–31 (insbes. S. 25)
Performing for the Camera, hrsg. von Simon Baker und Fiontán Moran, Ausst.-Kat. Tate Modern, London 2016, S. 21f.
Mirror Images: Women, Surrealism and Self-Representation, hrsg. von Whitney Chadwick, Ausst.-Kat. MIT List Center, Cambridge, Mass., Miami Art Museum und San Francisco Museum of Modern Art; Cambridge, Mass. 1998