Christin Müller
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Irmel Kamp: Moderne in Europa

Irmel Kamp erarbeitete ihre Serie Moderne in Europa zwischen 1995 und 2006 wie eine Spaziergangsforscherin. Inspiriert von markanten Bauwerken der Moderne in Architekturführern reiste sie an die entsprechenden Orte in Tschechien, Polen, Belgien, Italien, Deutschland und in den Niederlanden und lief aufmerksam schauend umher. Das zuvor ausgewählte Gebäude war der Anlass eine bestimmte Region aufzusuchen, fotografiert hat Irmel Kamp jedoch meist andere, weniger bekannte Bauten, deren Eigenheiten ihr aussagekräftiger erschienen. Das waren unter anderem Tankstellen, Kinos, Fabriken, Sanatorien und Messepavillons. Anders als bei ihren älteren Serien arbeitete Irmel Kamp an diesen Bildern eher locker und weniger recherchebasiert. Statt von einem Streben nach möglichst strukturierter Erfassung wie in den früheren Werkgruppen Tel Aviv und Zink zeugt die Serie Moderne in Europa vielmehr von einer starken visuellen Neugier.

„Jeder Bau ist eine Persönlichkeit“, sagt Irmel Kamp über die von ihr fotografierten Gebäude.  Hatte sie sich für eins entschieden, umkreiste sie das Bauwerk und suchte nach möglichen Aufnahmeperspektiven. Mit der sorgfältigen Wahl des Kamerastandorts, der Lichtsituation und der späteren Arbeit an der Ausbelichtung in Schwarz-Weiß in der Dunkelkammer unterstreicht sie feinsinnig die Eigenheiten der Stein gewordenen Architekturutopien der 1920er und 30er Jahre. In den Fotografien kann man so nicht nur die architektonische Gestaltung betrachten, sondern sich in die Charakteristika der Bauwerke vertiefen und sich deren Persönlichkeiten ein wenig ausmalen. Es folgen einige Beschreibungen als Versuch, an die von ihr eingefangenen Charakteristika anzuknüpfen:

Die Tankstelle Purfina in Arnhem blinzelt noch etwas verschlafen mit Bullaugen-Fenstern in die sanfte Morgensonne, als sei sie gerade aufgestanden. Das Haus erscheint im Bild weiß und still, fast wie frisch geduscht, und gibt mit einer Glasecke einen Einblick in sein Inneres. Das Dach gleicht wehendem Haar und die kleinen Pflastersteine seines Standorts könnten mit zusammengekniffenen Augen genauso gut ein feinkörniger Sandstrand sein. Im Hintergrund rascheln leise die Blätter der hohen Bäume. Das Cinema Puccini in Florenz steuert hingegen selbstbewusst durch ein Meer aus Sträuchern und Gestrüpp, wie ein gerade aufgetauchtes U-Boot. Die Gebäudekontur ist stromlinienförmig abgerundet und der hohe Turm verspricht mit seiner durchgehenden Glasfront eine gute Fernsicht. Darauf thront ein Blitzableiter wie ein Ausrufezeichen, während drei Antennen im hinteren Teil wirken, als seien sie mit Bleistift hingestrichelt. Auf der Fassade hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Der Putz bröckelt und erzählt altersweise Geschichten von widrigen Begegnungen mit den Gezeiten.

Ganz rechteckig aufgeräumt kommen die Koffie-Thee-Tabak-Fabriek und die Maison Atelier Guierre daher. Rechte Winkel und gleichmäßig gegliederte Fensterfronten bestimmen deren Fassaden. Einsicht erhält man dennoch wenig. Bei der Fabrik in Arnhem verdecken Jalousien die Sicht nach Drinnen. Die heruntergelassenen Lamellen haben in Irmel Kamps Abzug derart schön verlaufende Grauabstufungen, dass sie als Ensemble die Anmutung einer poetischen Komposition in schwarz-weiß haben. Die ungleichmäßig aufeinander liegenden Etagen der Fabrik werfen durch den Ausschnitt der Fotografie Fragen von geometrischen Linienexperimenten auf: Wo begegnen sich schräg zueinander verlaufende Linien und treffen sich parallele Linien nicht doch irgendwo in der Unendlichkeit? Die Maison Atelier Guiette in Antwerpen strukturieren senkrechte und waagerechte Flächen, die mit der Klarheit eines konstruktivistischen Gemäldes proportioniert sind. In der Frontalansicht scheint es tief einzuatmen und sich angespannt nach oben zu strecken. Die Seitenansicht zeigt die Entspannung und Weite nach dem Ausatmen. Gewitzt lockert eine kreisrunde Öffnung in der Mauer die Seitenfassade auf. Über eine eklektischere Formenvielfalt verfügt die Tankstelle Auto Palace in Nijmegen. An eine Glasrotunde mit aufgesetztem tellerförmigen Zwischendach dockt eine rechteckiger Baukörper an. Obendrauf träumt ein lang gestreckter Glaszylinder mit aufgesetzter Metallstange davon, ein Wolkenkratzer zu werden. Fotografiert hat Irmel Kamp die Tankstelle von einem leeren Parkplatz aus. In einem Zaun setzen sich die vertikalen Linien des Bauwerks fort, während ein blattloser Baum mit seinem organischem Wildwuchs die geometrische Strenge der Architektur konterkariert und ein unterm Dach parkendes Auto die frühere Gebäudefunktion wachruft.

Irmel Kamps Fotografien als klassische Architekturaufnahmen zu lesen, wäre schon rein formal zu kurz gegriffen. Mit dem gestaltenden Einbezug von Perspektive, Licht und Schatten arbeitet sie das Besondere der Gebäude heraus und betrachtet die wechselseitigen Einflüsse zwischen den Gebäuden und ihrer Umgebung. Die architektonischen Visionen zeigen sich in Irmel Kamps Bildern dann so wie die Charaktere in guten Porträtaufnahmen, an deren Ausdeutung man beim Betrachten involviert ist.

Publikationsort
Webseite Galerie Thomas Fischer, Berlin