Christin Müller
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Sebastian Stumpf im Gespräch mit Christin Müller

c.m. — Viele deiner Arbeiten entstehen im öffentlichen Raum. Interessiert es dich dabei, mit deiner Präsenz den vorhandenen Bewegungsfluss zu unterbrechen oder Lücken im städtebaulichen System aufzuspüren?

s.st. — Ich denke, dass ich bisher in keiner meiner Arbeiten mit meiner Präsenz einen Bewegungsablauf unterbrochen habe. Vielmehr versuche ich die Aufnahmesituation und meine Bewegungen so offen und beiläufig zu halten, dass der Raum nicht kontrolliert wird, wie das beispielsweise an einem Filmset der Fall ist. Die Passantinnen und Passanten, der Verkehr, die wichtigen Dinge des Lebens nehmen ihren Lauf – so ähnlich wie in Brueghels Gemälde vom Sturz des Ikarus. Dann gibt es eine Irritation oder Abweichung, die im nächsten Moment schon wieder vorbei sein kann.
Offene Stellen in urbanen Situationen interessieren mich, wenn der städtebauliche Plan nicht vollständig aufgeht oder einen blinden Fleck hat. Diese Leerstellen und Übergänge tragen für mich das Potenzial des Unvorhergesehenen.

c.m. — Siehst du dich als eine Stellvertreterfigur für die Betrachterinnen und Betrachter?

s.st. — Nein, obwohl es wahrscheinlich schon Möglichkeiten der Identifikation gibt. Sei es dadurch, dass der Körper in meinen Bildern meistens als Rückenfigur auftaucht oder die Bewegung zunächst oft in den Bildraum hinein führt. Ich denke auch, dass es für die Betrachterinnen und Betrachter naheliegend ist, ein Bewegungsgefühl für diese Aktionen zu entwickeln, weil sie auf alltäglichen Grundformen wie Gehen, Stehen, Liegen usw. basieren und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ausgeführt werden. Auf der anderen Seite werden einfache Bewegungen in teilweise absurden oder ausgesetzten Situationen vollzogen, und es gibt keine Hinweise darauf, dass jemand zu ähnlichem Verhalten angeregt werden soll.
Allerdings scheint auch der als Abweichung empfundene Teil der Aktionen als eine Art Reflex oder verlorener Instinkt in unserem kollektiven Bewegungsgedächtnis vorzukommen. In dem Sinne, dass wohl viele Menschen irgendwann einmal den Impuls verspüren oder verspürt haben, von einer Brücke zu springen, auf einen Baum zu klettern oder eine physische Abgrenzung zu ignorieren.

c.m. — Die Titel deiner Werkgruppen und Publikationen wie Weiße Räume verlassen, Never Really There, Leaving Again oder a way verweisen auf ein Verschwinden aus dem Bild. Was bezweckst du mit dem Verlassen des Bildraums?

s.st. — Zunächst kann man, was den Wechsel von An- und Abwesenheit angeht, zwischen den ortsbezogenen Projektionen, die seit 2004 in verschiedenen Kunsträumen entstanden sind, und den Arbeiten im öffentlichen Raum unterscheiden: Das Konzept, die Codes und die Konventionen des White Cube als pseudoneutraler, hermetischer, entkörperlichter Raum, welcher gleichzeitig ein Aktionsraum von Künstlern oder Künstlerinnen sein soll, haben mich immer wieder verwirrt und in mir eine Art Bewegungsdrang ausgelöst. Es war ein Zwiespalt. Ich wollte meine Arbeiten dort zeigen und gleichzeitig verspürte ich ein Unbehagen.
Auch der Begriff des öffentlichen Raums zeigt eine Domestizierung an. Im Vergleich zu einem Begriff wie „Straße“ suggeriert er etwas Künstliches, Aufgesetztes. In Verbindung mit Privatisierung, Kommerzialisierung und dem Entstehen größenwahnsinniger Stadtstrukturen entsteht für mich im Raum der Großstadt eine andere Form des Handlungsdrucks. Da ist der Körper eher wie ein kleiner Partikel.
Das Verschwinden findet, wie du ja sagst, in meinen Arbeiten auch auf der Ebene des Bildes statt: Die Bewegungen zielen oft auf den Bildrand oder in die Tiefe, auch hinter die Oberfläche des Bildes oder eines Bildelements. Trotz meiner seriellen Arbeitsweise bleibt darin etwas Plötzliches erhalten, eine Art verzögerte Pointe. In diesen Momenten des Übergangs können sich wesentliche Qualitäten und Probleme der Räume und ihrer Bilder zeigen.

c.m. — Wie setzt du Momente der Wiederholung ein?

s.st. — Allgemein fasziniert mich Wiederholung und Variation als ein Grundprinzip des typologischen Arbeitens mit der Kamera. Ein Hauptmotiv wird unter vergleichbaren Parametern fotografiert oder gefilmt, sodass auch kleine Unterschiede wahrgenommen werden können. Die Absurdität, Komik, oder auch (Dys-)Funktion einer Situation entwickelt sich auch durch den seriellen Aufbau. Bei der Videoprojektion Bäume von 2008 sieht man zum Beispiel alle möglichen Arten von kleinen Zierbäumen in unterschiedlichen urbanen Kontexten zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten. Meine Bewegung besteht darin, in der fragilen Struktur der Bäume nach oben zu klettern, bis zu dem Punkt an dem gerade noch nichts bricht. Man sieht also auch, welche Reaktionen und Formen sich durch das Gewicht des Körpers ergeben.
Mich interessiert weniger die einzigartige, spektakuläre Aktion, sondern eine stetig wiederholte Tätigkeit, deren Zweck zunächst nur in ihrer Ausübung liegt. Manchmal muss ich dafür viel Zeit investieren und mehrere Besuche an einem Ort einplanen, vor allem, weil man nicht jede Bewegung im urbanen Raum beliebig oft wiederholen kann, ohne ungewollt Aufmerksamkeit zu erregen.

c.m. — Du hast an verschiedenen Orten, unter anderem in Tokio, Los Angeles, Lyon, Berlin, London und in Ahmedabad gearbeitet? Was verbindet die Orte, die Ausgangspunkte für deine Arbeiten sind? Was interessiert dich besonders an diesen?

s.st. — Bisher war das eher ein ganz kleiner Teil der Welt, nämlich hauptsächlich westlich beeinflusste Großstädte. Ich befasse mich mit einer gewissen Gleichförmigkeit und dem Ergebnis von Rationalisierung. Einerseits resultieren die heutigen Ausformungen dieser urbanen Räume aus der Tradition der Moderne und andererseits aus globalisierten und kommerzialisierten städtebaulichen Strategien.

c.m. — Warum ist es für dich wichtig, die Fotografien analog aufzunehmen und selbst zu vergrößern? Und wie kommt es zu der Entscheidung, bei den Videoarbeiten digital zu arbeiten?

s.st. — Die Positionen und die Haltungen der Figur in meinen Fotografien sind oft – trotz der Alltäglichkeit gewisser Bewegungen – unwahrscheinlich. Deshalb ist es mir wichtig, dass die Betrachter und Betrachterinnen allein bei der Anschauung des Werkes sehen können, dass es sich um eine momenthafte Konstellation zwischen Körper, Raum und Kamera handelt, und nicht etwa um eine Montage. Die einfachste Möglichkeit dafür, die keiner weiteren Erklärung bedarf, bietet der vollständig analoge Prozess. Das Material bietet einen gewissen Widerstand. Die Zahl der Aufnahmen ist begrenzt, und ich sehe die Negative erst mit zeitlicher Verzögerung. Dadurch entstehen eine höhere Konzentration und die Möglichkeit von Zufällen und kleinen Abweichungen.
Die Videoarbeiten entstehen hingegen digital, weil die analoge Technik hier der angestrebten Einfachheit und Beiläufigkeit im Weg stehen würde. Der apparative und organisatorische Aufwand – sowohl bei der Aufnahme eines analogen Films als auch bei der Präsentation im Ausstellungsraum – wäre mir zu präsent und würde das Ergebnis ungünstig beeinflussen.
Am klarsten wird die nötige Verbindlichkeit des Analogen wahrscheinlich in der Fotoserie Zenit (2016). Die Serie ist an einem Endpunkt urbaner Ausdehnung fotografiert. Die Bildfigur steht in einem präzisen räumlichen Zusammenhang mit den vom Ozean überformten Architekturresten einer felsigen Küstenlinie, und gleichzeitig bezieht sich ihr Standpunkt auf den Horizont, also die Grenze unserer Wahrnehmung. Die Orte sind teilweise nur bei einem bestimmten Tiefwasserstand an zwei Tagen pro Monat begehbar, die Aufnahmen sind sehr wind- und wetterabhängig, und ich hatte vor Ort keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob der räumliche Aufbau und meine Bewegungen sich zum Bild fügen. Ein sehr langwieriger Prozess also, teilweise wie eine absurde Fingerübung angesichts der großen Ausdehnung des Ozeans. Zenit besteht aus acht Bildpaaren, der Arbeitsprozess dauerte aber von 2010 bis 2016.

c.m. — Für deine Videos definierst du, dass sie relativ groß und unbedingt als Projektionen gezeigt werden sollen. Was sind dabei deine Beweggründe und wichtige Parameter?

s.st. — Die Projektionsformate sind je nach Arbeit und Kontext unterschiedlich. Für die ortsbezogenen Videoprojektionen projiziere ich die im Ausstellungsraum aufgenommenen Sequenzen in Originalgröße auf die Wand desselben Raums. Projektionsraum und projizierter Raum kommen also zur Deckung.
Bei den Videoarbeiten, die in Außenräumen entstehen, ist mir die Qualität der Projektion als Bild ohne Oberfläche wichtig. Eine Projektion erzeugt als leuchtendes Bild eine andere Illusion von Räumlichkeit und verstärkt die Erfahrung von Immersion und Transgression. Die Größe der Projektionen ergibt sich dabei aus dem körperlichen Bezug zu den Betrachterinnen und Betrachtern und den Dimensionen des jeweiligen Ausstellungsraums.

c.m. — Inwiefern siehst du deine Arbeit in der Tradition von performativen Foto- und Videoarbeiten der 1960er- und 1970er-Jahre? Was hat sich heute verändert?

s.st. — Meine Arbeiten sehe ich nicht unbedingt in einer Tradition, auch weil es für mich keine verbindliche Kontinuität hinsichtlich der Lesarten und Einordnungen von historischen und zeitgenössischen Arbeiten gibt. Natürlich gibt es einige Künstlerinnen und Künstler aus den 1960er-und 1970er-Jahren, die mich beeinflusst haben. Genauso wie einzelne Werke, zum Beispiel die frühen Serien von Hiroshi Sugimoto oder Filme wie Der rechte Weg von Fischli und Weiss, in dem sich zwei Protagonisten auf ganz eigene Weise durch eine wilde Landschaft bewegen.
Verändert hat sich heute vor allem die Wahrnehmung von Fotografie. Durch die neuen Möglichkeiten der Herstellung und Manipulation fotografischer Bilder bleibt offen, wie ein Bild gemacht wurde und welche Rolle die Performance im Entstehen der Bilder hat. Das hat meines Erachtens etwas mit dem eigenen künstlerischen Anspruch an Authentizität oder Echtheit zu tun. Und daraus ergeben sich Fragen, denen ich in meinen Arbeiten nachzugehen versuche.

Publikationsort
with/against the flow. Zeitgenössische fotografische Interventionen. #3 Sebastian Stumpf, hrsg. v. ifa (Institut für Auslandsbeziehungen), Ausst.-Kat., Köln 2019, S. 65-67
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Sebastian Stumpf