Taiyo Onorato und Nico Krebs im Gespräch mit Florian Ebner und Christin Müller
f.e. — Ihr seid 2008 nach Berlin gekommen, was gab den Ausschlag dafür? Warum ist eigentlich das Hässliche und Unfertige dieser Stadt so fotogen und bildwürdig für euch?
t.o. — Nach unserem Studium in Zürich lebten wir eine Weile in New York, und nach unserer Rückkehr war schnell klar, dass Zürich nicht länger eine Option für uns war. Berlin hingegen war zu diesem Zeitpunkt ideal, denn im Gegensatz zu Zürich gab es noch günstigen Wohnraum und Atelierflächen. Die Stadt hatte eine gute Energie und viele Möglichkeiten, um in ihr und an ihr zu arbeiten.
n.k. — Wir waren fasziniert von den Leerstellen mitten in der Stadt und von den scheinbar unkoordinierten Versuchen, diese zu füllen und zusammenzuflicken. Die Entwicklung der urbanen Struktur ist immer ein visueller Index einer Zeit und Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses, sich und seine Umwelt zu definieren und zu gestalten. In Berlin waren die Verarbeitung der Geschichte und der Versuch eines Neuanfangs in allen Facetten sichtbar. Das hat uns berührt, damit wollten wir arbeiten. Selbst die gescheiterten Gebilde bleiben meist lange genug bestehen, um mit der Zeit auch etwas von ihnen zu lernen. Das Hässliche und Unfertige der Stadt wirkt also auch als Denk- oder Mahnmal, damit man es in Zukunft besser oder immerhin anders machen kann.
f.e. — Eure Arbeit verbindet auf äußerst innovative Weise zwei Ansätze, die lange Zeit als unvereinbar galten: das dokumentarische und das inszenierte Bild, und dies auf eine total undogmatische und spielerische Weise, die es eben nicht nötig hat, das Konzept als theoretisches Konstrukt vor sich herzutragen. Könnt ihr rekonstruieren, wie sich diese Arbeitsmethode entwickelt hat? Denn gerade mit The Great Unreal und den amerikanischen Mythen wählt ihr die fotografische Ikonografie, die der Inbegriff der Straight Photography ist.
n.k. — Während der Arbeit an The Great Unreal wurde uns klar, dass wir kein Interesse daran haben, die Idee der fotografischen Ikone im Sinne der amerikanischen Tradition zu wiederholen. Wir hatten oft den Eindruck, dass diese Bilder in ihrer ikonischen Art Konstruktionen sind. Darum haben wir angefangen, die Konstruktionen offenzulegen und damit das fotografische Bild an sich zu dekonstruieren. Die Arbeitsmethode entstand in vielen früheren Experimenten, die eine skulpturale, handgemachte Komponente in die Bildfindung eingebracht haben. Das fotografische Bild war schon immer ein weites Feld der Manipulation, jedoch prägten lange die Idee der Authentizität und die romantische Vorstellung von der „realen Abbildung“ das Ideal des fotografischen Mediums. Das wollten wir brechen, auseinandernehmen und unsere eigene fotografische Welt erschaffen. Mithilfe von Modellen, Collage- und Reprotechniken haben wir die fotografische Abbildung mit erfundenen, konstruierten Bildteilen verbunden, die besonders in der Sequenz und Kombination ihre eigene Wirkung entfalten. Auch fotografiespezifische Charakteristika wie Zentralperspektive, Tiefenschärfe und Bildebenen wurden für die Konstruktion einbezogen.
c.m. — Was das Material betrifft, zeichnet sich eure Arbeit durch einen experimentellen und reflektierten Umgang mit dem Medium aus. Etwa wenn ihr Abzüge weiterbearbeitet oder analoge und digitale fotografische Mittel auf produktive Weise verknüpft oder den Aufnahmeprozess durch eine Störung der Kamera manipuliert. Wie beeinflussen sich die Arbeitsmethode und das Motiv?
t.o. — Die Technik war für uns immer ein Experimentierfeld: Was passiert, wenn man den vorgeschriebenen, etablierten Weg verlässt und Fehler zulässt, Prozesse umkehrt und neu kombiniert? Oft machen wir Versuche, bei denen unvorhergesehene Resultate entstanden, die sich später bewusst und einigermaßen kontrolliert einsetzen lassen. Jede Störung im Bild hat Einfluss auf die Aussage, jedes Element kann verschieden gewichtet werden.
Zum Beispiel kann man mithilfe eines Kartons direkt vor der Optik bei der Belichtung aus einem Abendhimmel über einer Wüstenlandschaft einen unnatürlich schwarzen Nachthimmel machen, ohne dass man dies später eindeutig als Manipulation erkennen kann. Nur wirkt die Landschaft unter dem Himmel sehr viel bedrohlicher. Die Idee des fotografischen Bildes muss im Prozess jedes Mal neu bewertet werden.
f.e. — Weshalb reicht eigentlich das reine recording, die pure fotografische Aufzeichnung sichtbarer Wirklichkeit nicht mehr aus, weshalb kommt die Intervention hinzu? Das reine Registrieren, was ja lange das Dogma der Fotografie war, scheint für viele Künstler und Künstlerinnen heute eher der Resignation gleichzukommen. Ist die Fotografie zu passiv oder die Wirklichkeit zu langweilig?
n.k. — Weder noch. Aber neue Wirklichkeiten sind hinzugekommen, die sich nicht ignorieren lassen. Die Möglichkeiten der fotografischen Konstruktion haben sich ins Unendliche multipliziert, und bereits jetzt ist es kaum noch möglich, eine Konstruktion als solche zu erkennen. Durch deep learning sind Algorithmen bereits bessere, oder sagen wir effizientere Bildermacher, als wir es jemals waren, weil jedes Bild von Grund auf errechnet werden kann. Lens-based photography wird bald nur noch ein visuelles Genre unter vielen sein. Künstler spüren diese Veränderung und arbeiten ihre eigene Imagination in das fotografische Bild mit ein.
c.m. — In euren Ausstellungen sind Videoinstallationen und skulpturale Objekte wichtiger Bestandteil der Gesamtinstallationen. In welcher Beziehung stehen diese zu den fotografischen Bildern?
t.o. — Das fotografische Medium ist ein Verwandlungskünstler. Es kann nicht nur in unzähligen Bereichen angewendet werden, sondern auch verschiedene „Aggregatzustände“ annehmen. Die Fotografie in einer Buch- oder Screen-Publikation hat ein anderes Wesen als die objekthafte Manifestation in einer Ausstellung. In Ausstellungen versuchen wir immer, das ortsspezifische, singuläre Wesen einer Fotografie zu unterstreichen und eine Form der Installation zu finden, die zwischen Oberfläche und Inhalt pendelt und so beides verstärkt.
n.k. — Über die Jahre haben wir gemerkt, dass es für uns notwendig ist, uns immer wieder von der Fotografie zu entfernen, Pausen zu machen und uns anderen Formen und Herangehensweisen zu widmen. Über die Arbeit mit Filmen, Skulpturen und Installationen finden wir so auf unbekannten Wegen wieder zurück zur Fotografie.
c.m. — Welche Art von Materialien bzw. Objekten interessieren euch für die Ausstellungsinstallationen und warum?
t.o. — Manchmal finden wir Elemente und Ideen aus unseren Fotografien in anderen Formen materialisiert wieder, die wir dann in Ausstellungen integrieren. Zum Beispiel haben wir in den letzten Jahren mit Baumteilen und ganzen Bäumen gearbeitet, die über die Jahre durch menschengemachte Metallstrukturen, wie Zäune und Geländer, hindurchgewachsen sind und zu hybriden Gebilden wurden, die Geschichten erzählen von verblassten, menschlichen Ambitionen und dem unaufhaltsamen Drang des Lebens nach Wachstum und Raum. Diese „Verwachsungen“ sind uns das erste Mal während der Arbeit an der Serie Constructions (Building Berlin) begegnet, und zwar überall da, wo die Zeit die Natur in von Menschen geschaffene Zonen zurückbringt: in verlassene Industriegelände, den ehemaligen Berliner Mauerstreifen, in aufgegebene urbane Entwicklungsgebiete. Die Kombination von Fotografien mit Objekten macht dann für uns Sinn, wenn sie in verschiedenen Sprachen ähnliche Gefühle oder Gedanken artikulieren.
f.e. — In euren Filmen verwendet ihr analoges 16mm-Material. Was fasziniert euch daran? Ihr habt keine Angst, als Nostalgiker angesehen zu werden?
n. k. — Wir haben angefangen, mit 16mm-Filmmaterial zu arbeiten, weil uns die damit einhergehende Arbeitsweise interessiert hat. Wie bei der analogen Fotografie auch ist das Material aufgrund der hohen Kosten sehr beschränkt, und viele Entscheidungen müssen vor und während der Aufnahme gemacht werden anstatt in der Post-Produktion. Natürlich hat „echtes“ Filmmaterial auf Projektoren auch immer eine nostalgische Komponente, jedoch kann es, richtig eingesetzt, auch eine ungeheure Magie entwickeln, die eine andere Form von Aufmerksamkeit für das Bild generiert.
Im Moment versuchen wir, die Nostalgie, die dieser Technik eigen ist, ganz gezielt einzusetzen und mit ihr die Wahrnehmung zu steuern und zu stören. Es ist interessant, dass man bei einer 16mm-Filmprojektion eigentlich immer davon ausgeht, Bilder aus entfernter Vergangenheit zu sehen. Das ist ein Blickwinkel, der uns im Moment sehr interessiert.
f.e. — Im Blick zurück: Ihr habt an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich studiert, die in den 1990er- und 2000er-Jahren doch einige interessante künstlerische Positionen hervorgebracht hat. Was oder wer hat euch in diesem Umfeld in besonderer Weise geprägt?
n.k. — Die Schule in Zürich war in dieser Zeit eine fruchtbare Umgebung: Verschiedenste Haltungen trafen aufeinander, und das „Aufwachsen“ in diesem Spannungsgebiet war sehr bereichernd. Auch die Widerstände waren produktiv. Die private, intime Fotografie der 1990er traf auf die unterkühlte Düsseldorfer Schule, kommerzielle Ansätze auf konzeptuelle, performative Experimente, klassische analoge Fotografie auf erste Versuche in der damals neuen digitalen Entwicklung. Innerhalb dieser wilden mash-up war es für uns eine wichtige Erfahrung, eine eigene Linie zu finden.
Wir haben während des Studiums alle möglichen Richtungen ausprobiert: Neben eigenen Projekten nahmen wir Aufträge für Porträts und inszenierte Bilder für diverse Printmedien an, arbeiteten in Kollaborationen mit Modemachern (vor allem mit Bernhard Willhelm) für Lookbooks, Modeschauen und Ausstellungen, erstellten Architekturdokumentationen und Reportagen. Dazu kam unser eklektisches und teilweise obsessives Interesse für Filme, Musik, Bücher, Kunst… Der Einfluss war dementsprechend divers und inspirierend.
t.o. — Noch dazu hatten wir an der Hochschule eine großartige Schatzkammer an fotografischen Mitteln zu Verfügung, Studios, Labors, alle Kameraformate und diverse technische Kuriositäten. Der Umgang unter den Studierenden war sehr unbelastet und hilfsbereit. Den an vielen Schulen herrschenden Konkurrenzdruck haben wir in Zürich weniger gespürt, und auch unter den verschiedenen Jahrgängen fand sehr viel Austausch statt. Diese Stimmung ist wohl auch der damaligen Leitung der Fotografieklasse unter Ulrich Görlich, Andre Gelpke und Cecile Wick zu verdanken, die nicht etwa eine bestimmte Richtung förderten, sondern auf eine sehr diverse Praxis gesetzt haben.
c.m. — Und noch ein Blick nach vorn: Im Moment gibt es in der Fotografie ein Nebeneinander von analogen und digitalen Techniken, obwohl Materialien und Maschinen für analoge Prozesse langsam verschwinden. Zugleich werden neue Aufnahme- und Wiedergabeverfahren verbessert, Bilder existieren immer häufiger als networked images in geteilter Form statt als einzelner Abzug. An welchen Stellschrauben des Mediums möchtet ihr arbeiten? Was würdet ihr euch von der Fotografie wünschen?
n.k. — Für die Fotografie ist es eine enorm interessante Zeit. Neben den technischen Neuerungen gibt es die Nischen- und Nerd-Szenen, die alte Techniken wieder aufleben lassen und verbessern.
t.o. — Für unsere momentane Arbeit Future Perfect haben wir angefangen, Techniken zu vermischen, und versuchen, eine neue Sprache zu finden, die sich auf dem Grat zwischen Hoffnung auf und Angst vor unserer eigenen Zukunft bewegt. Wir experimentieren mit der Kombination neuer und alter Techniken, zum Beispiel haben wir kürzlich Hochpräzisions-Lasergeräte verwendet, um in der Dunkelkammer auf die lichtempfindliche Papieremulsion zu zeichnen oder direkt in die Schichten von 8×10inch-Negativen zu gravieren.
n.k. — Die Gravurtechnik ist interessant, weil sie in der Vergrößerung wiederum das Unperfekte und Fehlerhafte der digitalen Technik offenbart. Für uns bedeutet diese Arbeit auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, welche Kraft das fotografische Bild in der Zeit des Hochgeschwindigkeits-Bilderkonsums noch entwickeln kann und wie wir unser eigenes Empfinden darin einarbeiten können.