Visuelle Stolpersteine
Für Taiyo Onorato und Nico Krebs sind alle Fotografien Konstruktionen. Bereits durch die Auswahl des Ausschnitts, die Rahmung und die Intention des Bildautors verlieren Bilder für sie ihre Neutralität.1 In der Konsequenz erzeugt das Künstlerduo hintergründige Konstellationen aus Gefundenem und Erfundenem. Als Künstler sind Onorato & Krebs reiselustige Abenteurer, mutige Entdecker, gewitzte Erfinder und Konstrukteure und manchmal laienhafte Zauberer. Die Arbeit mit Fotografie und Film ist für sie ein Vehikel für die Auseinandersetzung mit der Welt. Mit Vorliebe begeben sie sich auf Ab- und Umwege, im Umgang mit den von ihnen gewählten Medien oder auch ganz physisch.
Als Taiyo Onorato und Nico Krebs 2008 nach Berlin kamen, zogen sie die städtischen Leerräume als Orte für alternative Ideen und Projekte an. Bis heute gibt es unzählige brachliegende Flächen mitten in der Stadt als Folge der politischen Teilung bis 1990. Weltweit wird Berlin als Sehnsuchtsort mit zahlreichen Mythen und Klischees in Verbindung gebracht. Vor fünfzehn Jahren beschrieb der Slogan „arm, aber sexy“ des damaligen Bürgermeisters Klaus Wowereit das Berliner Lebensgefühl der Attraktivität des Unfertigen. Seit 2008 lädt die Imagekampagne „be Berlin“ zu Improvisation und Mitgestaltung der Stadt ein. Trotz der fortschreitenden urbanen Verdichtung bleibt der Eindruck von Berlin als ewige Baustelle bestehen – ganz im Gegensatz zu dem, was die gängigen Motive von Postkarten und Social-Media-Posts suggerieren.
Die Fülle an ungenutzten Flächen und die besetzten Häuser mit ihren politischen Transparenten bildeten den Ausgangspunkt für Building Berlin. Die Serie entstand auf den Rückseiten der sanierten Straßen, an Orten, die Touristen nicht entdecken und wo die vermeintlich alles aufzeichnenden Street-View-Autos von Google nicht durchfahren. Solche Orte im Abseits erscheinen im Vergleich zu geschichtsträchtigen Orten oder aufsehenerregenden Monumenten wie ein graues gesichtsloses Einerlei. Der französische Anthropologe Marc Augé bezeichnet Orte des Transits, denen es an Identität, Geschichte und Relation mangelt, als „Nicht-Orte“.2 Doch gerade an der Unbestimmtheit dieser Orte lässt sich etwas über den allgemeinen Zustand der Stadt ablesen. Sie bieten einen Möglichkeitsraum, der sich mit Ideen ausfüllen lässt. Für den Moment einer fotografischen Aufnahme greifen Onorato & Krebs in die städtebauliche Entwicklung der deutschen Hauptstadt ein. Brandmauern, Bauskelette und Wohnhäuser bilden eine Hintergrundfolie, vor der sie zunächst Transparente mit Slogans in Anlehnung an die Ästhetik der Proteste der Hausbesetzerszene platzierten. Im Verlauf der Arbeit an der Serie verschwanden die Spruchbänder, und am Ende blieben nur die hölzernen Konstruktionen als temporäre Architekturen übrig. In den Fotografien zeichnen die Konstruktionen die Bebauung nach, erweitern oder konterkarieren deren Umgebung.
In den 16mm-Filmen Chimney, Lamp und Fire, die auch in Berlin entstanden sind, haucht das Künstlerduo dem Stadtbild mit Hilfe von Pyrotechnik Leben ein. In einem anderen Film mit dem Titel Blockbuster3 legt ein junger Mann an Berliner Gebäuden Hand an. Mit Werkzeugen schlägt er enthusiastisch auf Häuser, Kräne und Baustellen ein – oder zumindest ruft die exakte Platzierung der Schläge in der Bildkonstruktion diesen Eindruck hervor. Solche Interventionen sind präzise platziert, sie nutzen geschickt die Leerstellen im Gefüge der Stadt und machen deren Potenzial sichtbar.
Building Berlin war ein Zwischenstopp zwischen den zwei großen Fotoexpeditionen The Great Unreal und Continental Drift, die prägend für ihre Arbeitsweise und Bildsprache waren.4 Das Durchqueren der (Stadt-)Landschaften und der tatsächliche Kontakt mit dem Boden spielt in allen Projekten eine entscheidende Rolle: Während die Erkundung Berlins zu Fuß erfolgte, waren die beiden anderen Serien mit mehreren Roadtrips im eigenen Geländewagen verbunden. Für The Great Unreal reisten Onorato & Krebs zwischen 2005 und 2009 durch die weite Landschaft der Vereinigten Staaten, glichen eigene Vorurteile und mediale Mythen mit Vorgefundenem ab. In die entgegengesetzte Richtung führte sie Continental Drift. Nur mit einer vagen Vorstellung starteten sie 2013 mit dem Auto in Zürich und fuhren von dort 50.000 Kilometer durch die Ukraine, Georgien, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisistan, Tadschikistan, Kasachstan und Russland bis in die Mongolei, um sich ein Bild des fernen Ostens zu machen.
Mit ihrer Stadt- und Landschaftsfotografie sind Onorato & Krebs „fotografische Secondos oder Terzos“. In „eine exponential wachsende, Köpfe durchdringende, Realität überziehende Bilderwelt hineingeboren“5 sind sie Fotografen in zweiter oder dritter Generation. Mit Blick auf die bereits etablierten Bildkulturen stellt sich die Frage, wie ein neuer fotografischer Umgang mit Natur und urbanem Raum aussehen kann. Und wie die radikalen Veränderungen der realen Landschaft und die Umbrüche in der fotografischen Kultur in das Bildermachen hineinspielen.
Aus der Geschichte der Fotografie lassen sich leicht Verbindungslinien zum Werk von Onorato & Krebs ziehen. Mit den frühen Reisefotografen verbindet sie der neugierige Blick auf das, was Europäer im 19. Jahrhundert als fremd und „exotisch“ empfanden Der aufkommende Tourismus, die kolonialen Expansionen und ethnologisches Forschungsinteresse prägten die fotografischen Expeditionen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Landschaften Amerikas, des sogenannten Orients und Asiens erscheinen in den Bildern der Expeditionen monumental und spektakulär. Nicht selten offenbarten diese Fotografien verbreitete Klischees über Land und Leute. Das Interesse von Onorato & Krebs an urbanen Konstruktionen erinnert an die fotografischen Dokumentationen der großen Stadtumbau- und -erweiterungsprojekte im Europa des 19. Jahrhunderts. Umfangreiche Fotoserien, die mit Reisen durch die Vereinigten Staaten verbunden waren, entstanden bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren. Onorato & Krebs reisten wie Stephen Shore (für seine Serie American Surfaces) und Joel Sternfeld (für American Prospects) mit eigenem Auto auf der Suche nach dem, was für die USA charakteristisch ist. Die serielle und vergleichende Motivwiederholung steht in der Tradition konzeptueller Ansätze, etwa von Bernd und Hilla Becher. Onorato & Krebs empfinden diese fotografischen Entwicklungslinien nicht als Bürde, sondern als „Glück“. Die bereits etablierten Traditionen ermöglichen es ihnen, „mit einem sehr vielfältigen Vokabular hantieren zu können. Man kann andere Fotografen, ganze Genres und visuelle Kulturen zitieren.“6
As Long As it Photographs / It Must Be a Camera, Adding, Adding, Adding, One-Eyed Thief, Light of the Other Days, Defying Gravity,… – an vielen Werk- und Ausstellungstiteln lässt sich ablesen, dass die Künstler die Parameter der Fotografie nicht als gegeben hinnehmen. Stattdessen fordern sie ihr vergleichsweise starres künstlerisches Medium heraus. Wie können die Standardisierungen der technischen und physikalischen Prozesse aufgebrochen werden? Welche neuen Mittel der Produktion und der Abbildung sind denkbar und welche Auswirkungen hat dies auf die Rezeption? Erzählt eine Fotografie, die das Vorgefundene unverändert zeigt, mehr über einen Ort, als es eine Fotografie vermag, die die Charakteristik eines Ortes mittels einer Intervention hervorhebt? Wie lässt sich die enge Kopplung des Mediums an Zeit und Realität flexibler nutzen?
Eine Antwort steckt im Titel der hier gezeigten Serie Building Berlin – Onorato & Krebs bauen ihre Bilder. Ihre Bildproduktion gleicht einer Versuchsanordnung, bei der die Künstler ihren Motiven temporäre Elemente als Kommentar hinzufügen. In manchen Konstruktionen wird ein eigenständiger architektonischer Raum aufgespannt. Andere erweisen sich beim genauen Betrachten als abstrakte Skizzen aus Holz und Papier.7 Die Lattenarchitekturen lassen an die Schweizer Vorschrift denken, wonach das Ausmaß eines geplanten Gebäudes vor Erteilung der Baugenehmigung vor Ort zu simulieren ist.
In anderen Bildern der Serie ist die Fiktion das bestimmende Prinzip. In einer Fotografie fliegt ein papiernes Wohnungsfenster durch die Luft und landet auf einer Brandmauer. Im Film Lamp leuchtet recht plötzlich eine Straßenlaterne magentafarben auf. Ein Häuserblock lodert in Fire für ein paar Minuten lichterloh, und ein vergessener Schornstein beginnt in Chimney wieder zu rauchen. Solche Inszenierungen stehen im spannungsreichen Verhältnis zur Realität. Sie haben ihren Ausgangspunkt im Vorgefundenen und wirken – wie die italienische Soziologin Elena Esposito es allgemein für Fiktion beschreibt – „auf ausgesprochen raffinierte Weise auf die Realität zurück. […] Das Wahrscheinliche ist fiktional, aber nur deshalb funktioniert es, und nur deshalb bietet es uns jene Orientierungsmöglichkeiten, die die ,reale Realität‘ nicht zu bieten hat.“8
Was zunächst wie die schnelle Umsetzung von fixen Ideen wirkt, sind tatsächlich für den ausgewählten Ort und für die Kamera fein austarierte Interventionen. Alfredo Jaars Credo „You do not take a photograph. You make it“9 scheint bei Onorato & Krebs wortwörtlich Anwendung zu finden, und zwar mit einem ziemlich gewitzten Einsatz der Bedingungen von Fotografie und Film. Wirkungsvoll greifen die einfachen Gesetze der Optik und Perspektive: In der Zweidimensionalität der fotografischen Abbildung rücken Vordergrund und Hintergrund zusammen. Im Schwarzweiß verschwindet die Ablenkung durch die Farben, und die Umrisslinien von Gebäuden und Lattenarchitekturen gehen wie in einem Vexierbild eine ephemere Liaison ein.
Im Hinblick auf ihre Präsenz und Rezeption sind die Interventionen von Onorato & Krebs performativ.10 Statt realer Personen performen die Objekte auf der Bühne der Stadtlandschaft. Dabei entsteht das, was der Kurator Simon Baker als „deep interconnectedness between performance and photography at many levels“11 beschreibt. Aktion und Aufnahme sind eng miteinander verflochten. Die Installationen müssen nur kurz im Gleichgewicht bleiben, bevor sie in der Fotografie einfrieren. Die pyrotechnischen Aktionen dauern nur rund ein bis drei Minuten, erleben aber im Loop einen „filmischen Antiillusionismus“,12 der die künstlich geschaffene Realität in der Endloswiederholung humorvoll verfremdet. Wie bei einer Aufführung verschwinden die Objekte und erlischt die Pyrotechnik, wenn die Bilder aufgenommen sind, ohne jegliche Konsequenz in der Realität.
Die Wirkung der Zeitlichkeit greift noch an anderen Stellen. Seit die Künstler an der Serie arbeiten, hat sich die Stadt verändert. Leerräume und Blickachsen sind verschwunden, Gebäude abgerissen, umgebaut oder neu errichtet. So hat etwa die Bebauung in Heidestraße 1 im Vergleich zu Heidestraße 2 zugenommen, und die Großbaustelle von o2 existiert nicht mehr. Am Potsdamer Platz, wo die Künstler 2009 mehrere Tage völlig ungestört arbeiten konnten, steht heute eine riesige Shopping Mall. Ohne es zu beabsichtigen, dokumentieren Onorato & Krebs mit ihren Fotografien folglich den Umbau der Stadt. In der Präsentationsform von Chimney, Lamp und Fire schreibt sich wiederum die Zeit der mit dieser Publikation verbundenen Ausstellungstournee ein. Für die Filme wurden in die Transportkisten Monitore eingebaut, sodass diese zugleich Sockel und Schutz für die Werke sind. Spuren der Transporte schreiben sich auf den Oberflächen der Kisten ein und erzählen so von den Reisen und Ausstellungsorten.
Das Verständnis des Dokumentarischen hat sich durch die zeitgenössische künstlerische Praxis in den letzten Jahren radikal erweitert. Zum einen befeuert die starke Ausdifferenzierung der fotografischen Mittel die Darstellungsmöglichkeiten und deren kritische Hinterfragung. Zum anderen verlangt die schiere Menge an Fotografien, die uns täglich aus allen Teilen der Welt erreichen, von den Künstlerinnen und Künstlern einen neuen Umgang mit dem Medium. Onorato & Krebs beschäftigt in diesem Zusammenhang die Reibungsfläche zwischen Information und Fiktion.13 Sie versuchen sich nicht an einer umfassenden Dokumentation der Gegenwart. Ihre Arbeiten visualisieren stattdessen ihre individuelle Wahrnehmung: „it is a reproduction of how we look, how we perceive, how we understand or misunderstand.“14 Mit den Medien Fotografie und Film reflektieren Onorato & Krebs die Materialisierung und Vermittlung von Wirklichkeitsvorstellungen.15 Im Zeitalter der rasanten Fotoproduktion per Smartphone und des noch schnelleren Bilderkonsums mutet diese künstlerische Haltung vielleicht etwas altmodisch an. Sie bremst den Bildfluss durch das Festhalten von Kuriosem und das Einstreuen von „visuellen Stolpersteinen“,16 das fast romantisch dazu einlädt, genauer hinzuschauen und sich über das Abgebildete zu wundern.
1 ↩ Vgl. Statement der Künstler zum Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2017, https://www.sieshoeke.com/videos/taiyo-onorato-nico-krebs (5.1.2019).
2 ↩ Vgl. Marc Augé, Orte und Nicht-Orte, Frankfurt am Main, 1994, S. 92f.
3 ↩ Siehe dazu die Installationsansichten.
4 ↩ Zu Continental Drift siehe die Installationsansichten.
5 ↩ Urs Stahel, Ein Himmel voller Zeichen, in: https://ursstahel.ch/ein-himmel-voller-zeichen (13.12.2018).
6 ↩ Taiyo Onorato zitiert nach: Eurasia: Im Gespräch mit Taiyo Onorato und Nico Krebs. Ein Interview von Aaron Schuman, in: Taiyo Onorato & Nico Krebs – EURASIA, hg. von Doris Gassert und Thomas Seelig, Winterthur 2015, S. 5–6, S. 5.
7 ↩ Zum Verhältnis von Skulptur und Fotografie siehe: Lens-Based Sculpture. Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie, Ausst.-Kat. Akademie der Künste, Berlin / Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Köln 2014.
8 ↩ Elena Esposito, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt am Main 2014, S. 55.
9 ↩ Plakatarbeit von Alfredo Jaar für die Ausstellung Manifeste! Eine andere Geschichte der Fotografie im Museum Folkwang, Essen, 2014.
10 ↩ Zum Begriff der performativen Installation siehe: Angelika Nollert (Hg.), Performative Installation, Köln 2003.
11 ↩ Simon Baker, Performing for the Camera, in: Performing for the Camera, Ausst.-Kat. Tate Modern, London 2016, S. 11–27, S. 17.
12 ↩ Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main, 2003, S. 195.
13 ↩ Taiyo Onorato und Nico Krebs im Gespräch mit der Autorin, Berlin, 9.11.2018.
14 ↩ Siehe Fußnote 1.
15 ↩ Vgl. dazu Bernd Stiegler, Montagen des Realen, München/Paderborn 2009, S. 24f.
16 ↩ Taiyo Onorato, Vortrag an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, 14.11.2018.