Wenn es plötzlich knirscht in der Medienmaschinerie
Michael Schäfers Vorbild für Verdächtige ist eine Karikatur. Eine visuelle Provokation, die zynisch eine Unmenge an Klischees über Araber bedient, die derzeit durch Medien und Köpfe geistern. Düster dreinschauend steht da ein Mann mit arabischem Antlitz hinter einer aufgezogenen Gardine. Vier Zimmerpflanzen schließen, wie perfekt hinkomponiert, das Bild von unten ab. Deren Höhepunkt bildet ein gerade aufragender Kaktus, der genau auf das Gesicht des Mannes zielt. Während wir uns beim Betrachten immer weiter im Bild verfangen – in stiller Wut über das dreiste Klischee oder insgeheimer Zustimmung zu diesem Bild des Fremden –, unterbricht der Serientitel Pressebilder das Gedankenkarussell. Es ist gar keine zuspitzende Karikatur. Es handelt sich um ein Nachrichtenfoto, das sich Michael Schäfer bis hin zur Bildunterschrift angeeignet hat. Eigentliches Zuhause dieser Fotografie ist das Nachrichtenmagazin Focus, entnommen ist es der Rubrik „Periskop. Kurz, präzise und schnell auf den Punkt“ der Ausgabe 9/2005. Im Magazin erscheint das Bild in einer Größe von 4,8 mal 3,9 Zentimeter mit der Bildunterschrift „Vorbild für Verdächtige: [fett ausgezeichnet] Der als Top-Terrorist eingestufte Mamoun Darkazanli findet Nachahmer in Karlsruhe“.1 Knapp erzählt der dazugehörige Artikel von Darkazanlis Klage gegen seine Abschiebung aufgrund seiner mutmaßlichen Al-Qaida-Mitgliedschaft. Andere aus ähnlichen Gründen Verurteilte klagten auch. Als Nachbeben von 9/11 wurden Ereignisse und Bilder wie dieses leicht zum Politikum. Heute, fünfzehn Jahre nach dem Terroranschlag in New York, sorgen der sogenannte Islamische Staat und die Flüchtlingskrise für neue Erschütterungen.
Michael Schäfers Version des Darkazanli-Bildes zitiert minutiös die Details der Ursprungsfotografie. Anders als der Abdruck im Focus rauscht Michael Schäfers Fotografie nicht so schnell vorbei. Sein Abzug misst 152,5 mal 117 Zentimeter. In diesem Ausmaß steht der Bildprotagonist seinen Betrachtern etwas größer als lebensgroß gegenüber und es zeigt sich, wie das Bild taumelt, zwischen dem Anspruch des Focus, „Fakten, Fakten, Fakten“2 zu liefern, und karikaturhafter Suggestion. Ähnliches Klischee-Potenzial haben ein ratloser Politiker in Absage und muskelspielende amerikanische Soldaten in Letzte Lebenszeichen aus derselben Serie. Was setzt uns die Presse hier vor? Wie funktionieren die Bilder? An welcher Stelle beginnen sie, zu kippen?
„nicht der schrift-, sondern der fotografie-unkundige wird der analfabet der zukunft sein“3 – László Moholy-Nagys vielzitierter Appell von 1928, Fotografien wie Buchstaben, Wörter und Sätze lesen und nutzen zu lernen, scheint ein unausgesprochenes Leitmotiv von Michael Schäfer zu sein. Wenn er Fotografien aus dem Bilderstrom fischt, sie vereinzelt, aus den Zeitungs- und Zeitschriftenseiten befreit, aus dem Korsett von Spalten, Schlagzeilen und Berichten entlässt, befragt er Konstruktion und Charakter der Fotografien. Noch augenscheinlicher wird dies bei der Serie Vorbilder. Ausgangsmaterial sind Halbporträts von Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft, die ursprünglich im Spiegel erschienen sind. Seit Januar 2015 wirbt dieser mit dem Slogan „Keine Angst vor der Wahrheit“. Wie konstruiert die Wahrheit sein kann, zeigt sich im Posieren für den Fotografen, das Michael Diers beschreibt:
„Da die Bilder dem Redner das Wort gleichsam abschneiden, rücken an deren Stelle die ,sprechenden‘ Gesten nach, deren Rhetorik auf diesen Aspekt hin abgestellt wird. Das Spottbild verzeichnet die Konsequenzen: Der Redner schweigt, statt zu sprechen, waltet nicht mehr seiner angestammten Profession, sondern bosselt an seinem öffentlichen Bild und Gesicht, das im 20. Jahrhundert landläufig Image heißen wird.“4
Um die „sprechenden Gesten“ zu verstärken, verdeckt Michael Schäfer die bekannten Gesichter mit Studioaufnahmen von unbekannten Schauspielern. Übrig bleiben die bedeutungsschwangeren Gesten sowie die Frage, wer eigentlich Autor des Bildes ist: der Fotograf oder der Fotografierte?
Die Materie der zwei verschiedenen Bildtypen, die in Vorbilder aufeinandertreffen, versteckt Michael Schäfer nicht. Er lässt das gefundene, stark vergrößerte Offset-Druckraster brutal auf die eigenen hyperscharfen Porträts krachen. Photoshop dient ihm nicht zum Weichzeichnen, Einebnen und Einbalsamieren der einzelnen Versatzstücke. Nichts fließt wohlgefällig ineinander. Vielmehr knirscht es bei der digitalen Zusammenführung zwischen den Bildelementen, als wäre Sand im Getriebe der Medienmaschinerie, der den Bilderfluss stört und zum analytischen Hinschauen zwingt. Durch das Aufblasen der Zeitungsfotografien öffnen sich Struktur und Material des Gedruckten – im gleichmäßigen Druckpunkteteppich zwischen Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz tun sich die Grenzen des Abbildbaren auf. Die hohe Tiefenschärfe der Gesichter hingegen gibt jede noch so kleine Regung preis, was diese bedeuten soll aber nicht. An der vollkommenen Oberfläche rutschen wir leicht ab. Ob der Blick also sorgenvoll oder hinterlistig, das Händereichen bereitwillig oder aufgezwungen, die Kollegin den Rücken stärkt oder Unglück bringt, bleibt in der Schwebe.
Wie verändert der technische Fortschritt unsere Bildkultur? Das gedruckte Raster gerät langsam in die Jahre, Pixel übernehmen, die sich oft nur digital bewegen und über Links im Internet verstreut werden. Fotografiert und gefilmt wird alles, überall, von allen. Massen von Bildern strömen täglich an uns vorbei. Bilder manipulieren kann inzwischen fast jeder; die Frage nach der Autorschaft ist immer schwieriger zu beantworten. Mit der steigenden Durchlässigkeit und Geschwindigkeit wird es umso dringlicher, die Bilder zum Stehen zu bringen.
Zwei dieser Pixel-Bildtypen hat Michael Schäfer auf ihre Konsistenz untersucht. Es sind digitale Bilder, die verführen wollen. Generation thematisiert die Welt der Mode, deren Perfektion insbesondere junge Menschen anzieht. Michael Schäfer lässt Laufstegmodelle auf Kindergesichter und zwei verschiedene digitale Speicherformate aufeinander stoßen. Kinder und Models verbindet der Drang zu körperlichen Selbstoptimierung. Das komprimierte JPEG und das hochqualitative TIFF streben in entgegengesetzte Richtungen. Die JPEGs sind „arme Bilder“,5 zur schnellen Ansicht und Bewegung im Internet kleingerechnet, zum Nachteil von Auflösung und Farbtiefe. Wie die Druckpunkte werden in dieser Serie die Pixel sichtbar. Sie zerschneiden die Haut der Models in fahle Quadrate, machen deren Körper geisterhaft. In der Unschärfe und dem Zerfall tut sich ein Vakuum auf, das mit Ideen und Begierden gefüllt werden kann. Die Kindergesichter, im Studio ebenmäßig ausgeleuchtet und hochaufgelöst fotografiert, sind dagegen klar und spurenlos. In der Kombination – von JPEG und TIFF, Kinder- und Modelkörpern – verstärken sich Unschuld und Abgrund.
Für Invasive Links bedient sich Michael Schäfer bei LiveLeak. Diese Internetplattform öffnet unter dem Slogan „Redefining the Media“ einen virtuellen Raum für die Berichterstattung im Feld „News & Politics“. Ähnlich wie bei YouTube kann jeder Nutzer eigene Handyvideos hochladen, teilen und kommentieren. Solche Videosequenzen oder Filmstills von Bürgerjournalisten wuchern seit dem Irak-Krieg bis in die konservativsten Nachrichtenformate. Häufig etwas verwackelt und unscharf wirken die Videos authentisch und emotional, verlockend und erschreckend zugleich.6
Die Perspektive der Handykamera ist eingängig und weist auf ihre Aufnahmebedingungen hin – mitten aus dem Geschehen heraus hält jemand sein Mobiltelefon auf das, was vor ihm passiert. Fast im gleichen Augenblick flackert das Aufgenommene auf unseren Monitoren auf. Näher können wir kaum dran sein… Doch die Nähe ist ein Trugschluss. Die Unmittelbarkeit enthält eine versteckte Distanz. Zwar sehen wir mitten ins Geschehen hinein. Mareike Meis spricht sogar von einer „Körperlichkeit, die das Handy mitbringt, durch das verwackelte Bild, durch die Geräusche, die wir dort wahrnehmen“.7 Beim Betrachten der Filme halten wir unser Mobiltelefon vielleicht genauso in der Hand wie der Filmende. Im Grunde nehmen wir die gleiche Position ein wie jemand, der durch ein Schlüsselloch schaut. Die Tür beziehungsweise der Screen ist dazwischen. Sie sind schützende Grenze und perspektivbestimmend. Wie das latente, digitale Bild bleiben wir körperlos, weil wir nur starr zuschauen, aber nie direkt eingreifen können.
Mit Invasive Links spielt Michael Schäfer durch, was passiert, wenn wir mitten im fotografierten oder gefilmten Geschehen drin sind, und stellt – stellvertretend für uns – ein paar junge Menschen Anfang zwanzig in ein pixeliges Handyvideo hinein. Das Video ist angehalten. Am Ort des Geschehens können wir uns in Ruhe umschauen. Ein junger Mann in Shorts blickt ratlos auf einen Soldaten, etwas entfernt fährt ein Panzer. Im zweiten Bild: Vier Personen stehen beisammen wie auf einer Party, hinter einer Mauer steigt eine Explosionswolke auf. Die Distanz zwischen Vorder- und Hintergrund, gefundener und hinzugefügter Bildwelt ist riesig. Hier hängt die feierwütige Generation Y ab, dort erfolgt die entschiedene Verteidigung von Land, Leben und Ideologien. Während die einen egozentrisch sorglos in der Welt herumtappen, zerfällt sie für die anderen in ihre existenziellen Einzelteile – wie das Foto in einen Graumatsch aus Pixeln.
Quer zu Pressebilder, Vorbilder, Generation und Invasive Links steht das Offene Archiv. Es fächert Michael Schäfers jüngstes Recherchematerial auf, das mit jeder Station dieser Ausstellung wachsen wird. Die darin versammelten Screenshots erinnern an Bildsequenzen auf Kontaktbögen, die das Davor und Danach von ikonisch gewordenen Medienbildern zeigen. Die Politiker bewegen sich daumenkinohaft durch ihre Entourage, Bürger protestieren dagegen, die Protagonisten haben noch ihre eigenen Gesichter, und die Explosionswolke schwebt allein in weiter Landschaft. Als Einleger im Katalog oder Loop auf einem Monitor fungiert das Archiv als eine Referenztafel, mit der wir Michael Schäfers Bilder vergleichen und einordnen können.
Im Selektieren und Sortieren, Verdichten und Verrücken von Mimik und Gestik, von Konstellationen, von Pixeln, Druckpunkten und Bildformaten legt Michael Schäfer das Gerüst von Nachrichtenbildern frei. Er sägt couragiert an dessen Stützen. Schlussendlich sind seine Arbeiten ein Aufruf, genau hinzuschauen, uns ein eigenes Bildvokabular anzueignen, und immer wieder zu fragen: Was zeigt das Bild eigentlich?
1 ↩ Auslieferung. Immer mehr Klagen, in: Focus 9/2005, S. 13.
2 ↩ Seit Gründung des Focus 1993 ist dies der Werbespruch des Magazins, formuliert hat ihn Helmut Markwort.
3 ↩ László Moholy-Nagy, Fotografie ist Lichtgestaltung, in: Bauhaus: Zeitschrift für Bau und Gestaltung 1/1928, S. 2–9, hier S. 5.
4 ↩ Michael Diers, Schlagbilder. Zur politischen Ikonografie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1997, S. 181.
5 ↩ Hito Steyerl, In Defense of the Poor Image, in: http://www.e-flux.com/journal/in-defense-of-the-poor-image/ (3.2.2016).
6 ↩ Vgl. Hito Steyerl, Die Farbe der Wahrheit, Wien 2013 (2008), S. 7.
7 ↩ Mareike Meis, zitiert nach: Klaus Deuse, Handyvideos. Den Tod dokumentiert, in: http://www.deutschlandfunk.de/handyvideos-den-tod-dokumentiert.761.de.html?dram:article_id=316192 (29.1.2016).