Wer bist du? Das bist du!
Was verraten Porträts (nicht) über die Porträtierten?
Das fotografische Porträt gleicht einer Dreiecksbeziehung: Es ist das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen Fotograf, Porträtiertem und Betrachter. Auch wenn es zeitweise den Anschein hat, dass einer der drei die Kontrolle über das Bild hat, bleiben alle stets Produzentinnen und Produzenten wie auch Empfängerinnen und Empfänger des Bildnisses.1 Diesen Annahmen Ariella Azoulays folgend, unterliegen fotografische Porträts Bedeutungsschwankungen und sind offen, unterschiedlichen Ansprüchen und Begierden gerecht zu werden. Wir als Betrachterinnen und Betrachter haben also, ob wir wollen oder nicht, einen wesentlichen Anteil daran, was uns ein fotografisches Porträt „sagt“. Unsere Deutung ist bei Porträts besonders delikat, da wir hier Einzelpersonen betrachten, über sie urteilen und dabei objektiven und subjektiven Rastern folgen – um ihren Charakter zu entschlüsseln, deren Identität zu bestimmen und uns zu ihnen in Beziehung zu setzen.
Messen und Vermessen
Ausgangspunkt dieses Kapitels sind Porträts von Psychiatriepatientinnen und -patienten vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie stammen aus dem Archiv der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, das Kunstwerke von Insassen psychiatrischer Anstalten aus dem Zeitraum von 1840 bis 1945 sammelt. Es handelt sich bei diesen Porträts um „Fotografien-wider-Willen“2, die von den Patientinnen und Patienten bei Eintritt in die Anstalt aufgenommen worden und Teil ihrer Patientenakte waren. In der Psychiatrie ebenso wie in der Kriminalistik, Anthropologie und Ethologie glaubte man Ende des 19. Jahrhunderts mithilfe der scheinbar objektiven fotografischen Beschreibung nicht nur Personen identifizierbar machen zu können, sondern sie auch über das fotografische Abtasten ihrer Physiognomien klassifizieren zu können – und ordnete ihnen auf diese Weise Krankheiten, Täterprofile oder auch Rassenidentitäten zu. In den wissenschaftlichen Disziplinen ist die verwendete Bildsprache ähnlich: Die Personen werden zumeist frontal und im Seitenprofil ins Bildrechteck gezwängt und so einer möglichst guten Vermess- und Vergleichbarkeit ausgesetzt. Gegenbilder, die das Misstrauen gegenüber der fotografischen Objektivität ausdrücken, finden sich in der Sammlung Prinzhorn in Form von Überzeichnungen fotografischer Bildnisse, gezeichneten Neuinterpretationen und Selbstdarstellungen in Eigenregie.
Dieses Klassifizieren erscheint ab einem bestimmten Moment grotesk. In Peggy Buths Fotografien von 2008 verweigern die Porträtierten mit vorgehaltener Hand ihr Antlitz. Das hält die Künstlerin jedoch nicht davon ab, ihnen dennoch ein Vermessungsraster überzustülpen. Feine, in das Rahmenglas gravierte Linien vermessen die Länge und Größenverhältnisse der Finger. Ein beigefügter Test verspricht, über den Vergleich der Fingerlängen, der sich besonders gut mit einer Fotokopie der Hand vornehmen lässt, soziale Verhaltensweisen, sexuelle Präferenzen und gesundheitliche Einschränkungen ablesen zu können. Grundlage des Tests ist eine Studie amerikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um 2000, die uns die Künstlerin in etwas modifizierter Form in der Ausstellung zum Mitnehmen zur Verfügung stellt. Unwillkürlich fangen wir an – zumindest gedanklich –, die eigenen mit den fremden Fingerlängen zu vergleichen. So tappen wir in die gleiche Falle wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im 19. Jahrhundert: der Annahme, dass sich das innere Seelenleben mit einem Medium analysieren lässt, das sich auf die Darstellung von Oberflächen beschränkt.
Wie leicht wir uns durch Zuschreibungen und Kategorisierungen verführen lassen, führt Jürgen Klaukes Arbeit Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse (1976/77) vor Augen. In zwölf Fotografien sind Gesichter von zwölf Typen zu sehen – vom Richter über den Artisten, Mörder, Bullen, Schwulen, Heiligen bis hin zum Schwachsinnigen. Die Charakteristika dieser Personengruppen zeichnen sich in der fotografierten Physiognomie ab. Doch wir irren uns. Jürgen Klauke zeigt uns nur zwei verschiedene Gesichtsausdrücke. Dass je nach Menschentyp Unterschiedliches im Bild erkennbar wird, ist pure Einbildung.
Spielen mit Stereotypen
Beim Lesen und Verstehen von Porträts helfen uns Indizien, die wir in Mimik und Gestik, Kleidung, Aufnahmeort und Bildkontext – und nicht selten auch in stereotypen Darstellungsmustern – suchen. Über die Konfrontation von zwei diametral gegenüberstehenden Ideologien führt uns John Smith in seinem Film Om (1986) die eigene Reaktion auf visuelle, akustische und ideologische Klischees vor. Innerhalb von vier Minuten verwandelt sich ein junger Mann von einem buddhistischen Mönch in einen britischen Hooligan. Im Verlauf des Films werden die ohnehin schon kurzen Haare des Protagonisten noch kürzer rasiert, unter seinem orangenen Umhang kommen ein weißes Poloshirt und schwarze Hosenträger zum Vorschein. Währenddessen ändert sich die Mimik des Protagonisten erst schleichend, dann schlagartig, wenn der Umhang von einer anderen Person entfernt wird. Spätestens in diesem Moment verändert sich die Deutung der beobachteten Gestik und Identität radikal.
Welchen Einfluss unser kultureller Hintergrund auf die Wahrnehmung von Porträts hat, thematisiert Zanele Muholi mit ihren Selbstinszenierungen. Mithilfe der diskriminierenden Praxis des Blackfacing3 und exotisch, prekär oder fetischistisch anmutender Accessoires reflektiert sie über das Bild der schwarzen Frau als ein Gefüge aus ethischen und geschlechtlichen Vorstellungen. Ihre dunkle Haut malt sie schwarz an, verwandelt Industrieschrott in opulenten Schmuck, zeigt sich mit übervoller Haarpracht und stellt sich in einem Bild als Wilde, in einem anderen als Armutsleidende oder gar als Trophäe dar. Es sind Vorstellungsmuster eines weißen, männlichen Blicks, die sie sich selbst in stiller Melancholie aufzwingt, um deren Absurdität vorzuführen.
Analyse und Vergleich
Das analytische Potential von Fotografien machen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Künstlerinnen und Künstler zu nutze. In der psychologischen Forschung waren Fotografien bis in die 1970er-Jahre Mittel, um psychische Krankheiten und Abweichungen von der Norm darzustellen und damit ein Gegenbild zur bürgerlichen Lebenswelt zu schaffen. In zahlreichen Lehrbüchern finden sich Fotografien, die über einen Abgleich der dargestellten körperlichen Merkmale eine Diagnose ermöglichen sollten. In einem Großteil der Fälle handelte es sich jedoch um visuelle Interpretationen des fotografierenden Arztes.4
Mit ähnlich analytischem Blick fotografierte Marianne Wex von 1972 bis 1977 die Körperhaltungen von Menschen in den Straßen von Hamburg und ergänzte diese Bildersammlung durch Fotografien aus Zeitungen und Zeitschriften. Anders als bei den wissenschaftlichen Ansätzen in der psychiatrischen Forschung sammelte sie eigene und gefundene Aufnahmen einer Vielzahl an Personen, die sie im öffentlichen Stadtraum vorfand. Anschließend sortierte sie die Aufnahmen in verschiedene Kategorien, um über den visuellen Vergleich der Haltung von Armen, Beinen, Füßen, Knien, Ellenbogen, Händen, Schultern und Köpfen eine typisch weibliche und männliche Körpersprache herauszustellen.
Instabile Identitäten
Welchem Bedeutungswandel ein fotografisches Porträt unterliegen kann, buchstabieren Helmar Lerski und Andrzej Steinbach aus. Helmar Lerski fokussiert auf das Gesicht eines jungen Mannes, den er 1935/36 auf dem Dach eines Hauses in Tel Aviv fotografierte. Mithilfe des gleißenden Sonnenlichts und bis zu 16 Spiegeln und Blenden erschuf er 175 mögliche Identitäten einer Person. Es ist eine praktische Vorführung, wie mit dem Licht als Urbedingung der Fotografie der Objektivitätsglaube an das Medium ausgehebelt werden kann, und zugleich ein Verweis darauf, dass unendlich viele Identitäten in einer einzigen Person stecken.
Die zwei jungen Frauen in den Bildsequenzen von Andrzej Steinbach verändern im Verlauf der Fotositzung ihre Mimik, Gestik, Körperhaltung und Kleidung. Der Künstler und damit auch wir bewegen uns gleichzeitig um die Figuren herum, fotografiert aus wechselnden Distanzen und Perspektiven – 186-mal in Schwarz-Weiß in einem schmucklosen Raum. So einfach das Setting erscheint, so verunsichernd und irritierend ist es, denn trotz ihrer Klarheit bleiben die Identitäten und die Begierden der beiden Frauen ungewiss. Im Nebeneinander mehrerer Bilder steigert sich diese Offenheit wie auch die Deutung der gesellschaftlichen und politischen Zugehörigkeit. In manchen Sequenzen ergeben sich auch brisante Widersprüche, wenn aus einem langweiligen weißen T-Shirt, das sich Figur II über den Kopf stülpt, erst Sichtfenster, dann Burka und schließlich eine Sturmhaube wird – und somit aus einem alltäglichen Kleidungsstück ein gesellschaftspolitisch aufgeladenes Accessoire.
Als klassisches Einsatzfeld der Fotografie und eines, dem wir am häufigsten im Alltag begegnen, bleibt das Porträt immer ein bisschen verrätselt. Es verrät sehr viel über uns, vielleicht sogar mehr als über die abgebildete Person: Wenn eine Fotografie Empathie, Gleichgültigkeit oder Ablehnung auslöst, werden Porträts zu „Spiegelbildern oder Gegenbildern unserer selbst“5.
1 ↩ Vgl. Ariella Azoulay: The Civil Contract of Photography, 2. Aufl., New York 2014, S. 27f.
2 ↩ Susanne Regener: Visuelle Gewalt, Bielefeld 2010.
3 ↩ Blackfacing ist eine Theaterpraxis, die im 19. Jahrhundert in den USA zur Darstellung afroamerikanischer Rollen populär war. Weiße Schauspieler malten sich für die stereotypen Aufführungen der sogenannten Minstrel Shows ihr Gesicht schwarz. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg übernahmen auch Afroamerikaner die Rollen und ironisierten die diskriminierende Praxis, indem sie sich das Gesicht mit Kohle noch schwärzer schminkten.
4 ↩ Vgl. Helen Bömmelburg: Der Arzt und sein Modell, Porträtfotografien aus der deutschen Psychiatrie 1880 bis 1933, Wiesbaden 2010, Susanne Regener: a. a. O. und Bernhard Stumpfhaus: Das schöne Bild vom Wahn, Weinsberger Patientenfotografien aus dem frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart, 2008.
5 ↩ Susanne Regener: Fotografische Erfassung: Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999, S. 7.